Pling. Dieses Geräusch macht das Gerät alle 30 Minuten. «Ich nahm das Ding sogar in die Ferien mit», sagt Franziska Baggenstos, Verkaufsleiterin bei der Versicherung Mobiliar. Sobald sie die Schweizer Grenze passierte, war sie - pling - mit ihrer Mailbox wieder synchron. Vor 18 Monaten wurde sie von ihrer Arbeitgeberin mit einem Smartphone ausgestattet. «Am Anfang wars spannend, ich freute mich über das Signal.» Dabei war das «Pling» nichts anderes als der Ruf der Arbeit mitten in der Freizeit.

Vor 15 Jahren hätte Baggenstos im Urlaub weder E-Mails gecheckt noch SMS geschrieben - höchstens hätte sie eine schnippische Postkarte an die Bürokollegen gesandt. Auch hätte sie ihre Ferien nicht am Arbeitsplatz über das Internet gebucht. Mails, SMS, Internet: Das war Zukunftsmusik. Damals wäre sie nach Feierabend direkt ins Reisebüro geeilt, um sich von einer Spezialistin mit dicken Katalogen beraten zu lassen. Feierabend? Das war diese Zeit nach 17 Uhr, als man mit den Arbeitskollegen das Büro verliess, vielleicht gemeinsam noch ein Bier trinken ging. Den Feierabend gibt es heute noch. Bloss entscheidet jeder selber, wann es so weit ist. Manchmal dauert er auch nur eine Stunde - bis zu Hause der Computer eingeschaltet ist: «Sie haben 17 neue Nachrichten.»

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Die fleissige Schweiz

Nur in Rumänien und der Türkei arbeiten die Beschäftigten länger als in der Schweiz. Vollzeitangestellte verbringen 44 Stunden pro Woche in der Arbeitswelt, inklusive verrechneter Überstunden. Das zeigt ein internationaler Ländervergleich für das Jahr 2005. Spitzenreiter sind wir auch bei der Sonntags- und Nachtarbeit. Unter dem Strich stehen uns jährlich drei Wochen weniger für Freizeit und Familie zur Verfügung als dem Durchschnittseuropäer. Die Schweiz ist auch in einer weiteren Disziplin führend: bei den flexiblen Arbeitszeiten. In keinem anderen Land geniessen Angestellte mehr Autonomie (siehe nachfolgende Grafik). Immer öfter arbeiten sie, ohne die Arbeitszeit überhaupt noch zu erfassen. Andere sind von Unternehmen angestellt, die sich auf eine Vorgabe der Jahresarbeitszeit beschränken. So zum Beispiel bei der UBS, die ihre Blockzeiten abgeschafft hat. «Die Arbeitszeit kann in Absprache mit den Vorgesetzten und dem Team selbst eingeteilt werden», teilt die Bank mit. Auch Teilzeitarbeit sei auf Wunsch möglich. Die UBS will dadurch «die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit, Freizeit und Familie verbessern».

Die Arbeitszeiten werden flexibler, nicht aber die Termine und die Ansprüche an die Qualität. So wuchert die Arbeit zunehmend in den Feierabend. Die Schweizer haben sich zu Hause kleine Büros eingerichtet, manche sind mit teuren USM-Haller-Möbeln ausgestattet - die gleichen wie im Geschäft. Drei Viertel der Schweizer Haushalte haben einen Computer, zwei Drittel Zugang zum Internet. Für Büroangestellte sind die Grenzen zwischen Arbeitsort und Wohnung gefallen. Mit der neuen Handy-Generation und dem sogenannten Cloud Computing wird es gar keine mehr geben. Sämtliche Unterlagen werden auf einen Server geladen und befinden sich als Datenwolke irgendwo im virtuellen Raum. Dort können sie jederzeit und von überallher angezapft werden. Eine bedrohliche Wolke, die das Büro zum ständigen Begleiter macht: zu Hause, auf dem Arbeitsweg, in den Ferien.

«Ich bin ein Nachtmensch», sagt Ruth Derrer Belladore, Mitglied der Geschäftsleitung des Schweizerischen Arbeitgeberverbands. Früher leitete sie die Personalabteilung in einem Dienstleistungsunternehmen. «Manche wichtige Arbeit habe ich schon abends zu Hause erledigt. Dafür konnte ich mal einen halben Tag freinehmen, um mit der Familie etwas zu unternehmen. Darauf möchte ich nicht mehr verzichten.» Das findet auch die Mehrheit der Schweizer Beschäftigten. Arbeitgeber würdigen die hohe Flexibilität in der Schweiz als Marktvorteil, für die Verfasser der erwähnten Studie hat mehr Autonomie positive Auswirkungen auf die Gesundheit.

Das ist aber nur die eine Seite der Medaille: Flexible Arbeitszeiten sind vor allem das Ergebnis einer konsequenten Ausrichtung der Wirtschaft auf die sich immer schneller wandelnden Kundenbedürfnisse. Und diese bestimmen letztlich, wann mehr gearbeitet werden muss. Den Angestellten werden dann entsprechend die Termine enger gesetzt.

Die Folgen der Flexibilität

Mit den flexiblen Arbeitszeiten geht eine Beschleunigung der Arbeit einher - und zwar nach der Regel: Je flexibler die Bedingungen, desto schneller wird gearbeitet. Im erwähnten internationalen Vergleich berichten 86 Prozent derjenigen Schweizer mit den meisten Freiheiten und Mitspracherechten von Termindruck. 83 Prozent finden, sie seien einem hohen Arbeitstempo ausgesetzt, und fast zwei Drittel klagen, sie würden häufig oder sehr häufig bei der Arbeit unterbrochen. Gerade Letzteres schadet der Produktivität enorm (siehe «Übereifer der Angestellten: Schädlich für die Unternehmen»).

Die Flexibilisierung beschränkt sich nicht auf den Arbeitsplatz. Flexible Angestellte wollen auch flexibel konsumieren. Darum muss zum Beispiel das Verkaufspersonal zunehmend Arbeit auf Abruf leisten. Längere Ladenöffnungszeiten beeinflussen wiederum massgeblich, wie lange in Büros gearbeitet wird. In den neunziger Jahren landete die Bäckereifirma Hiestand einen Grosserfolg, indem sie ihr patentiertes Zwirbelbrot in Tankstellen und Bahnhöfen verkaufte. Das meist ofenwarme Brot vermittelt dem flexibilisierten Angestellten das Gefühl, genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Ein warmes Brot ist wie ein «Sie haben eine neue Nachricht» - einfach für den Bauch.

Dass sich immer mehr Angestellte ständig entscheiden müssen, ob, wann und wo sie arbeiten wollen, hat massive Auswirkungen auf Familienleben, Partnerschaft und Freundeskreis. Beziehungen zu pflegen und zeitlich abzustimmen wird zur anspruchsvollen Managementaufgabe auch für einfache Angestellte.

Nach wie vor ist der Verlust des Arbeitsplatzes die grösste Angst der Schweizer Angestellten. Mit etwas Nacharbeit zu Hause können vermeintliche und tatsächliche Defizite im Beruf kaschiert werden. Und wer Karriere machen will, überarbeitet am Sonntagabend noch die Powerpoint-Präsentation für den Chef. Den «Tatort»-Krimi speichert er derweil auf die Harddisk. Den will er sich am Montagabend ansehen. Doch genau dann wird er Zeit brauchen, endlich den Wust nicht beantworteter E-Mails abzuarbeiten. Weil immer mehr Unternehmen keine Rechenschaft über geleistete Arbeitszeit verlangen, wird diese auch von den Angestellten nicht mehr genau erfasst. Wer schreibt sich auf, wie lange er zu Hause noch Mails beantwortet hat? Und zwischendurch war man ja auch privat im Internet unterwegs. Mit der Flexibilisierung der Arbeitszeiten steigt die tatsächliche Arbeitszeit, stellen Wissenschaftler fest. Denn jede Arbeit, die nicht erfasst wird, verleitet dazu, sie nicht zu kompensieren.

Die Möglichkeit, ständig und überall alles zu tun, ist für den deutschen Wirtschaftspädagogen Karlheinz A. Geissler ein permanenter «Angriff auf Raum und Zeit» der Menschen. «Das Ortsgebundene wird zu Folklore.» Er prophezeit dem «Homo simultans» eine Zeit- und Ortslosigkeit des Privaten, die zu massiven Orientierungs- und Identitätsproblemen führen könne. Das Aufheben der Grenze zwischen Arbeit und Freizeit ist nicht nur eine Chance, sein Leben selbstbestimmter zu gestalten. Es fällt auch die Grenze, die bislang das Privatleben schützte.

Die ständige Unruhe der Menschen und die Überforderung, sich von der Arbeitswelt abzugrenzen, sind für den Schweizer Arbeitsmediziner Dieter Kissling Faktoren für die starke Zunahme sogenannter Burnouts - chronische Erschöpfungen, die oft in schwere Depressionen münden.

Das Arbeitsgesetz wird ausgehebelt

Die Gewerkschaften haben in den vergangenen 150 Jahren erfolgreich mehr Arbeitnehmerschutz erkämpft, kürzere Arbeitszeiten und längere Pausen- und Ruheregelungen erstritten. Jetzt entgleiten ihnen diese Errungenschaften zusehends.

Wo Arbeits- und Ruhezeiten nicht mehr erfasst werden, greifen auch entsprechende gesetzliche Regelungen nicht. Im Einzelfall kommt es zu Kollisionen mit dem geltenden Recht, das für die Industriearbeit geschaffen wurde. Ruth Derrer Balladore vom Arbeitgeberverband: «Wenn ein Angestellter am Sonntagabend zu Hause etwas für die kommende Woche vorbereitet, ist das heute ein Verstoss gegen das Arbeitsgesetz. Selbst wenn er die Zeit an einem anderen Tag wieder einziehen kann und er selber an dieser Lösung interessiert ist.» Wenn der Angestellte die geleisteten Stunden abrechnet, gerät das Unternehmen in eine heikle Situation: «Entweder es akzeptiert die Sonntagsarbeit - was ja im Interesse des Angestellten wäre - und macht sich damit strafbar. Oder der Vorgesetzte könnte versucht sein, die Stunden einfach für einen Samstag verrechnen zu lassen. Damit bewegt er sich aber in Richtung einer Urkundenfälschung», so Derrer Balladore.

Das Schlechteste wäre jedoch, auf eine Kompensation ganz zu verzichten, sagt Benedikt Gschwind vom Kaufmännischen Verband Schweiz. Er empfiehlt allen Angestellten, über die zu Hause geleistete Arbeit Buch zu führen. «Gerade wenn keine Rechenschaft mehr über die Arbeitszeit erwartet wird, kann es zu bösen Überraschungen kommen. Etwa wenn der Vorgesetzte plötzlich behauptet, man habe eine ungenügende Leistung erbracht.»

Die negativen Auswirkungen der deregulierten Arbeitszeit sind bis anhin ignoriert worden. Für Arbeitsmediziner Dieter Kissling haben hier die Manager versagt. «Die Führungskräfte funktionieren oft selber an der Grenze zum Burnout und gehen mit einem schlechten Beispiel voran. Dabei wäre es gerade deren Aufgabe, für eine Betriebskultur zu sorgen, in der so etwas nicht passiert.» Vorgesetzte müssten eine Sensibilität für gefährdete Angestellte entwickeln, um sie rechtzeitig ansprechen und unterstützen zu können.

«Jetzt ist ein Marschhalt nötig»

Ruth Derrer Balladore teilt diese Auffassung weitgehend. «Wenn im Chefbüro regelmässig das Licht bis 22 Uhr brennt, dann werden jene Angestellten, die sich profilieren wollen, nachziehen.» Und wenn Vorgesetzte spätabends noch Mails an Mitarbeiter versenden, sehen manche Angestellte darin eine Pflicht, die Mails auch jeden Abend abzurufen oder gar darauf zu antworten. «Das Tragische ist, dass der Vorgesetze das in der Regel gar nicht erwartet. Er hat lediglich selber die Möglichkeiten des flexiblen Arbeitens genutzt.» In den vergangenen Jahren sei auf Zusehen hin flexibilisiert worden. «Jetzt ist ein Marschhalt nötig, um die Spielregeln neu zu definieren», sagt sie.

Das haben auch findige Unternehmer begriffen. Das Geschäft mit der Work-Life-Balance boomt. Kunden sind Unternehmen und Angestellte gleichermassen. Firmen versuchen die exorbitanten Kosten von Burnout-Fällen zu verhindern, die Angestellten ihre privaten Beziehungen zu retten. Doch Power-Yoga über Mittag oder Joggen mit Bürokollegen wird die Probleme kaum lösen. Sie sind letztlich ein weiterer Angriff auf die knappe Zeit. «Wir müssen vor allem lernen, nein zu sagen zu noch mehr Belastungen», sagt Arbeitsmediziner Kissling. Eine Herausforderung für jeden Manager - das all seinen Angestellten beizubringen. Zumal die Beschäftigten schon früh auf Flexibilität gedrillt werden.

Denn gerade junge Menschen werden punkto Zeitmanagement besonders gefordert: Immer länger driften sie zwischen Ausbildungen, schlecht bezahlten Praktika und befristeten Anstellungen. Lebensziele werden ständig relativiert, die Familienplanung wird hinausgeschoben.

Zeitmanagement wird zur Schlüsselqualifikation, wie und wo es gelernt werden soll, ist aber unklar. Über kurz oder lang wird es darum ins Pflichtenheft der Lehrer geschrieben werden. Bloss: Lehrer brennen schon heute besonders oft aus.

Arbeitszeiten sind flexibel geregelt

So sind für Erwerbstätige die Arbeitszeiten geregelt, wenn sie der Betrieb nicht fix festlegt

Erwerbstätige in Prozent (1)



 Wahl zwischen vorgegebenen Zeitplänen
 

 gleitende Arbeitszeit
 

 vollständig individuelle Arbeitszeiten



 
 
Schweiz
7% 33% 14%



Österreich
11% 25% 8%



Frankreich
11% 41% 8%



Deutschland
12% 20% 6%



Italien
10% 17% 5%



Durchschnitt Europa (2)
9% 18% 7%



(1) Die zu 100 fehlenden Prozente fallen unter «Arbeitszeit wird vom Betrieb festgelegt».
(2) EU-Länder plus Kroatien, Türkei, Schweiz und Norwegen
So viele Stunden (inklusive Überstunden) arbeiten Angestellte pro Woche (3)


Schweiz
44
Österreich
41
Deutschland
40
Italien
39
Frankreich
37
Durchschnitt Europa (2)
41


(2) EU-Länder plus Kroatien, Türkei, Schweiz und Norwegen
(3) Mittelwert der Wochenarbeitszeit der abhängigen Beschäftigten mit einem Vollzeitpensum

Quelle: Seco, April 2007

Übereifer der Angestellten schadet

Mit «Attention Deficit Trait» bezeichnet der amerikanische Psychologe Edward Hallowell einen umweltverursachten Hang zur chronischen Unaufmerksamkeit - oder deutsch: Man lässt sich dauernd ablenken. Als Hauptursache nennt Hallowell die moderne Kommunikationstechnik, die eine schier uneingeschränkte Erreichbarkeit gewährleistet. Gemäss einer US-Studie kann sich ein Arbeitnehmer durchschnittlich nur noch knapp elf Minuten einer Aufgabe widmen, bevor das Telefon, ein SMS oder eine E-Mail nach seiner Aufmerksamkeit verlangt. Bis er sich wieder seiner ursprünglichen Tätigkeit zuwendet, vergehen acht Minuten, in denen er zwei kleinere Sachen erledigt - und nach nur drei wirklich produktiven Minuten kommt die nächste Störung. Folge: Die Produktivität sinkt massiv.


Aber nicht nur das: Die Ablenkungen verleiten dazu, unangenehme Aufgaben hinauszuschieben. Denn oft bringen die Unterbrechungen neue Aufträge mit sich, die dann zuerst erledigt werden. Scheinbar gerechtfertigt lässt sich so Mühsames vertagen, um sich Einfacherem und Unwichtigerem zu widmen. Das führt schliesslich dazu, dass das Wichtigste zu kurz kommt. Die Wissenschaft kennt dieses Phänomen als «Procrastination» (Aufschub). Faustregel: Je ferner die Deadline, desto grösser die Angst zu versagen; und je leichter man sich ablenken lässt, desto eher wird die Aufgabe hinausgschoben. Und weil sie folglich in letzter Minute erledigt wird, steigt die Gefahr, dass sich in entscheidenden Phasen Flüchtigkeitsfehler einschleichen.

Anwesenheit um jeden Preis

Ein weiteres Problem, das der zunehmende Arbeitsdruck mit sich bringt, ist «Präsentismus» - die Tendenz von Angestellten, zur Arbeit zu erscheinen, obwohl sie wegen körperlicher oder psychischer Leiden die Leistungserwartungen nicht erfüllen können. Mit dieser Tapferkeit erweist man dem Unternehmen einen Bärendienst: Die indirekten Folgekosten wegen mangelnder Arbeitsqualität oder Rückfällen können viel höher sein als jene, die durch die Abwesenheit verursacht würden. Eine amerikanische Studie zeigt, dass zwischen 75 und 80 Prozent der durch Schmerzen und Depression verlorenen Arbeitsstunden auf die Folgen von Präsentismus zurückzuführen sind.