Die Tour, die vor uns liegt, ist 5,6 Kilometer lang und hat angenehme 355 Höhenmeter. Eine leichte Wanderung auf den Bürgenstock mit hübscher Aussicht, etwas für einen entspannten Tag. Doch bald fühle ich mich so erschöpft wie lange nicht mehr. Nicht körperlich, sondern mental. Denn heute bin ich als Begleiterin von Jacqueline Egger unterwegs.

Vor 18 Jahren erblindete sie vollständig – und fand eine Weile lang nur wenige Freunde und Freundinnen, die mit ihr Ausflüge oder gar Sport machen wollten. «Viele trauten mir sportliche Aktivitäten kaum zu. Sie waren besorgt, etwas falsch zu machen», erzählte sie, als wir vor der Wanderung in der Villa Honegg einen Kaffee tranken. Sie erlebe oft, dass Leute mit Unsicherheit und Ängsten auf Menschen mit Beeinträchtigung reagieren. «Ich musste mich erst durchsetzen und vieles einfach mal wagen, um meinem Umfeld zu zeigen, was möglich ist», sagt Egger. Und möglich sei «praktisch alles».

Eine Frage der Konzentration

Dass sie heute Kajak und Tandem fährt, golfen und wandern geht, ist nicht selbstverständlich. Egger investierte viel Zeit, um ihre Stabilität, Flexibilität und ihre Grundkonstitution zu trainieren. Sie machte Gleichgewichtsübungen und tanzte. «Als blinde Person brauche ich einiges mehr an Kraft, da ich mit meinem Körper immer nach einem guten Stand suchen muss», sagt sie. Als schwierig eingestufte Wanderungen Gefahren auf Bergtouren Tipps für sicheres Wandern lässt Egger bleiben. «Da wird es mit der Zeit vor allem wegen der Konzentration sehr anstrengend», sagt sie. Es sei weniger der Körper, der an den Anschlag komme, sondern der Geist. Das merkte sie kürzlich während einer Wanderwoche auf Zypern. Viele lose Steine auf den Wegen machten die Wanderungen massiv anspruchsvoller.

Lose Steine gibt es auf dem Bürgenstock kaum, doch als der Waldweg ansteigt, die Wurzeln grösser werden und nasse, rutschige Steinflächen den Aufstieg herausfordernder machen, wird es streng. Auf einen leichten Anstieg im Tannenwald folgen gut befestigte Wege in Felshöhlen und geschwungene Pfade über Wiesen und Kuhweiden. Egger hält sich mit ihrer Hand ganz leicht über meinem Ellbogen fest, fast wie freundschaftlich eingehakt. Wird es eng auf den Wanderwegen, hält sie sich an meinem Rucksack, geht ganz genau hinter mir.

Jana Avanzini und Jacqueline Egger stehen an einem Hang – vor ihnen eine Aussicht über Felder, Hügel, Dörfer

Jana Avanzini beschreibt Jacqueline Egger möglichst detailliert die Aussicht.

Quelle: Hanna Jaray

Auf unserer Wanderung mit dabei sind Grace Kumar Selvarajah – «einfach G. K.», sagt er – und sein Begleiter Heinz Moser. Selvarajah ist vor sechs Jahren erblindet. Danach habe er das Gefühl gehabt, alles, was früher selbstverständlich war, könne er kaum mehr machen. Sport zum Beispiel oder auf Reisen gehen. Bis er vor einigen Monaten bei einem Kurs Jacqueline Egger kennenlernte. Dank ihr und weiteren Bekannten habe er wieder mehr Selbstvertrauen gewonnen.

Er möchte nun öfters wandern gehen, an Kursen und Ausflügen teilnehmen. «I want to be involved and want to be independent – ich möchte Teil der Gesellschaft und unabhängig sein», sagt der gebürtige Tamile, der vor vier Jahren mit seiner Familie in die Schweiz kam. Letztes Jahr ging er auf seine erste Wanderung. Er war nervös: Würde er es schaffen? Danach wusste er: Die Antwort lautet ja! Und das «I can’t do this – ich kann das nicht», das sich seit der Erblindung in seinem Kopf festgesetzt hatte, wandelte sich zum neuen Lebensmotto «I can do anything – ich kann alles tun».

Die Landschaft spüren

Die Aussicht vom Chänzeli ist grandios. Der Blick auf den Vierwaldstättersee und die Alpen, die ihn säumen, ist beeindruckend. Selbst als praktisch Einheimische muss ich das zugeben. Ich sehe Kühe, Wald und das Berg-See-Panorama. Doch wie nimmt Jacqueline Egger die Landschaft wahr? «Sitze ich im Auto oder im Zug, bekomme ich von der Umgebung nichts mit», sagt sie. «Beim Wandern hingegen erlebe ich die Natur mit dem Körper. Ich spüre den Boden – die Wiese, den Kies oder den Blätterteppich –, ich rieche Gülle, den feuchten Wald und die Blumen. Ich höre die Vögel und spüre den Wind.»

Aber auch die Aussicht sei wichtig, betont Egger, die mit 41 Jahren komplett erblindete. «Ich will beim Wandern nicht über alltägliche Themen sprechen oder über Politik», sagt sie, «ich möchte wissen, wie es um mich herum aussieht.» Ich beschreibe ihr die moosbewachsenen Tannen, die Felsen, in die das Wasser Wellenformen gewaschen hat, die hohen Farnwiesen, den glatt daliegenden Vierwaldstättersee, auf dem ein paar wenige Segelboote dahingleiten. Ich führe ihre Hände an Moos und Farn und zu den wilden Erdbeeren, die hier wachsen.

Eine Hand, auf der kleine, rote Walderdbeeren liegen

Hören, wie die Beere gepflückt wird – danach fühlen, schmecken, riechen.

Quelle: Hanna Jaray

Die Dinge konkret auszudrücken, daran muss ich mich erst gewöhnen. Nicht bloss von einer «schönen Aussicht» zu sprechen, sondern von den Mustern, die Sonne und Wolken auf die Felswände zeichnen. Noch detaillierter als die Umgebung beschreibe ich den Weg vor unseren Füssen. Ich warne vor Wurzeln und vor Steinen. Ich kündige Treppenstufen an, Regenrinnen, Viehsperren und Drehkreuze. Ich weise darauf hin, wenn ein Weg länger steil aufsteigt, wenn Treppen nicht mehr zu enden scheinen, wenn ein Etappenziel in Sicht ist.

Vertrauen ist alles

Blinde oder Sehbehinderte müssen ihrer Begleitperson absolut vertrauen können. «Ich habe Freunde, mit denen ich nicht mehr als einen Spaziergang entlang des Quais machen würde», sagt Egger und lacht. Das sei vollkommen okay. Eine Begleitperson müsse wach und aufmerksam sein, aber auch empathisch und vorausschauend. Das sei nicht allen gegeben.

Heinz Moser, der heute mit G. K. unterwegs ist, begleitet seit rund vier Jahren blinde und sehbehinderte Menschen beim Sport oder auf Ausflügen. Der Soziialpädagoge war bereits mit vielen Personen auf unterschiedlichsten Touren. Er ging mit ihnen Schneeschuhwandern, fuhr Tandemvelo, begleitete sie während Kulturwochen. Er sagt: «Sie haben mich gelehrt, die Welt auch anders wahrzunehmen. Ich erkenne, wo Stolperfallen lauern und welche Hindernisse blinde Menschen im Alltag überwinden müssen.»

Kurz bevor wir die Krete erreichen und damit die Terrasse des Hammetschwand-Lifts mit Blick über den Vierwaldstättersee bis hin zum Luzerner Seebecken, kurz bevor uns ein weiterer kleiner Regenschauer erwischt, steht unbeweglich eine Kuh auf dem Weg. Es gibt kein Durchkommen, wir müssen in den Wiesenhang steigen. Eben erst habe ich mich daran gewöhnt, klar abgesteckte Wege zu beschreiben, nun wird es sehr kompliziert. Ich bemerke, wie stark ich mich in dem steilen, von Kuhhufen zertretenen Hang auf meine Augen verlassen muss, wie schwierig es ist, genaue Schrittgrössen und -höhen zu beschreiben. Nach einer gefühlten Ewigkeit im Kommunikationschaos mündet das Geklettere in Gelächter. Die Kuh hat sich davongemacht, kaum sind wir um sie herumgestiegen.

Die Gruppe geht in Einerkolonne einen schmalen Fusspfad entlang. Eine Kuh steht quer im Weg.

Jetzt wirds kompliziert, jeder Schritt muss exakt beschrieben werden.

Quelle: Hanna Jaray

Mal selbst die Augen schliessen

Auf dem Felsenweg angekommen, drückt mir Jacqueline Egger ihren Blindenstock in die Hand, und Heinz Moser bietet mir seinen Arm. Ich kann nun selbst erfahren, was es bedeutet, einem Menschen komplett zu vertrauen. Das funktioniert bei meinem Begleiter gleich von Anfang an. Vielleicht, weil ich ihn bereits vorher in Aktion erlebt habe, vielleicht, weil ich als Begleiterin von Jacqueline selbst die Verantwortung spürte. Bald merke ich, wie ich kleinste Veränderungen beim Ansteigen oder Abfallen des Weges mit geschlossenen Augen intensiver wahrnehme, als wenn ich sie kommen sehe.

Abends ist mein Kopf voll von all dem, was ich heute gelernt habe. Wie wichtig eine exakte Kommunikation ist, welche Behinderungen Blinde erleben und wie viel sie trotzdem unternehmen können. Und ich habe gelernt, dass man den Blindenstock neben und nicht vor dem Körper halten sollte, will man nicht riskieren, sich selbst bei kleinsten Unebenheiten den Stock in die Lende zu rammen.

Wanderhilfe: Die App MyWay Pro

Blinde und Sehbehinderte brauchen bei vielen Aktivitäten Begleitung. Für Wanderungen gibt es seit 2020 die App «MyWay Pro», mit der solche Ausflüge sogar ohne Begleitung möglich sind. Sie ist ein Gemeinschaftsprojekt von Procap Schweiz, Schweiz Mobil, der Apfelschule und dem Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband SBV. Urs Kaiser, Ehrenpräsident des Vereins Apfelschule, der Kurse für sehbehinderte Menschen anbietet, hat die App getestet und stellt ihr ein gutes Zeugnis aus. Ist die App auf dem Smartphone geladen, zeigt Vibrieren an, ob man in die richtige Richtung unterwegs ist.

Folgende Institutionen bieten Wanderungen und andere Aktivitäten für Personen mit Sehbehinderung an: