Meine Tochter hat die erste Primarklasse geschafft. Vom ersten Schultag an plagten Sorgen mein sonst so optimistisches Gemüt. Wird sie das alles können? Was, wenn nicht?

Heute weiss ich: Ich habe ihr nicht vertraut.

Wie war ich alarmiert, als sie eines Abends ihr Heft mit den Leseübungen in die Ecke pfefferte und mich anschrie: «Lass mich! Ich will das nicht lesen!» Sie rannte in ihr Zimmer. Ich blieb in der Küche zurück, allein mit meinen Ängsten und mit klopfendem Herzen: Wie wird das enden, wenn sie nicht lernt, sich durchzubeissen? Wenn sie sich nicht in Disziplin übt? Ich sah sie schon als Erwachsene unter einer Brücke hausen. Ein versemmeltes Leben.

Immer öfter weigerte sich meine Tochter, ihre Leseaufgaben zu machen. Sie ergriff die Flucht vor mir und meinen Ermahnungen. Wobei «Ermahnung» ein netter Ausdruck ist für:

«Hey, du musst das morgen in der Schule können!»

«Das liest du jetzt sofort, dreimal!»

«Du verpasst noch den Anschluss, und dann?»

«Lass mich!»

Der Schweizer Kinderarzt und Autor Remo Largo sagte mal in einem Interview, die Leistungsgesellschaft, in der wir leben, werde angefeuert von der existenziellen Angst vieler Leute, den Wohlstand auf Dauer nicht halten zu können. Und dass wir diese Angst oft auf unsere Kinder übertragen. Ist es meine Furcht vor dem sozialen Abstieg, die mich meine Tochter anschreien lässt? Schwer zu sagen. Die Angst, die mich verfolgt, ist diffuser. Als könnte ich plötzlich nicht mehr mithalten, nicht mehr das schaffen, was von mir erwartet wird, und in der Folge allen Halt verlieren, hinausrutschen aus der Gesellschaft. Diese Angst ist wie ein Motor, der mich antreibt. Zum Glück ist er nicht der einzige.

Meine Tochter weiss noch nichts von diesem Motor. Aber sie spürte meine Nervosität, jedes Mal, wenn ich sie im Lauf des letzten Schuljahrs mit Gleichaltrigen verglich und feststellte, dass sie bei irgendetwas nicht gleichauf war mit den anderen. Und sie spürte meine Unnachgiebigkeit, wenn ich von ihr verlangte, dass sie ihre Hausaufgaben machte, dass sie erfolgreich war – funktionierte.

Welchen Druck ich aufsetzte, merkte ich, als sie wieder mal «Lass mich!» schrie und ich den Schmerz in ihrem Gesicht sah. Wie Schuppen fiel es mir von den Augen: Ich degradiere meine Tochter zur Befehlsempfängerin, mein wunderbares Kind, das sein Bestes gibt, um den schwierigen Wechsel vom Kindergarten in die Primarschule zu meistern. Ich verletze es in seinem Stolz, seiner Würde. Puh!

Vertrauen statt Befehle

Fortan riss ich mich zusammen. Versuchte, zu akzeptieren, wenn sie keinen Bock auf Lesen hatte. Ohne unterschwellige Botschaften zu senden wie: Mach, was du willst, aber wundere dich nachher nicht. Wird schon werden, dachte ich. Nein, befahl ich mir zu denken. Anfangs. Bis ich begann, meiner Tochter und ihren Fähigkeiten zu vertrauen.

Sie kann inzwischen lesen. Sie hat es gelernt, weil sie wissen wollte, was auf den Wundertüten angepriesen wird, die sie jeweils mit ihrem Sackgeld kauft. Stecken darin zwei Fingerringe im Einhornlook oder nur fünf Pokémon-Trainerkarten? Sie hat lesen gelernt, weil sie das Aufklärungsbuch, das ich ihr geschenkt hatte, so aufregend fand, dass sie nicht warten wollte, bis ich ihr daraus vorlas. Und weil sie unbedingt erfahren wollte, wie es ist, selbst jemandem vorzulesen. Sie holte ihr Witzeheft und schlug es auf: «Was sitzt auf dem Klo und ist grün?», las sie in einem Affenzahn. «Ein Kaktus.» Wir brachen in schallendes Gelächter aus.