Beobachter: Anton Strittmatter, wie viel Intimität zwischen Lehrern und Schülern ist tolerierbar?
Anton Strittmatter: So allgemein lässt sich das nicht sagen. Eine Berührung wirkt im Sportunterricht anders als in der Mathematik oder in einer Trostsituation. Es kommt auf den jeweiligen Zweck der pädagogischen Begegnung an. Auch das Geschlecht spielt eine Rolle, das Alter, die biographischen Erfahrungen des Schülers oder der Schülerin mit Berührungen.

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Beobachter: Eine hochkomplexe Angelegenheit.
Strittmatter: Viele Lehrer sind verunsichert, haben Angst, etwas Falsches zu machen. Ein Beispiel: In der Sportstunde werden Sprünge auf dem Trampolin geübt. Der Sportlehrer steht aus Sicherheitsgründen neben dem Trampolin. Der Sprung einer Schülerin ist unsicher, so dass der Lehrer nach ihrem Oberarm greift – und dabei unabsichtlich die Brust der Schülerin berührt. Und jetzt? Wie soll der Lehrer reagieren?

Beobachter: Wie denn?
Strittmatter: Berührungen an intimer Stelle sind tabu. Absolut verboten. Wenn das absichtlich passiert, macht sich der Lehrer strafbar. In diesem Fall handelt es sich jedoch um eine einmalige, unbeabsichtigte Berührung. Das ist keine sexuelle Belästigung. Trotzdem – es ist eine heikle Situation, und der Lehrer sollte sie nicht einfach unkommentiert lassen. Er sollte sich undramatisch entschuldigen – mit einem «Sorry», wie bei einem unbeabsichtigten Anrempeln im Bus.

Beobachter: Der neue 24-seitige Leitfaden «Persönliche Grenzen kennen und respektieren» ist eine Orientierungshilfe für Lehrer in heiklen Situationen. Das Thema Nähe und Distanz im Klassenzimmer ist so alt wie die Institution Schule. Warum kommt das Merkblatt erst jetzt?
Strittmatter: Die Unsicherheit der Lehrer ist in letzter Zeit stark angestiegen. Immer häufiger kommt es zu nachweislich falschen Anschuldigungen, die für die Lehrer böse enden. Schülerinnen oder Schüler rächen sich etwa für eine schlechte Note, indem sie den Lehrer des sexuellen Übergriffs beschuldigen. Sie rechnen damit, dass alle mit Blaulicht auf den Lehrer losgehen. Selbst wenn sich später herausstellt, dass der Vorwurf aus der Luft gegriffen war, ist der Lehrer erledigt. Gekündigt und ohne Aussichten auf eine neue Stelle. Das Merkblatt erklärt den Lehrern anhand von konkreten Situationen aus dem Unterrichtsalltag, welches Verhalten in Ordnung ist, welches ein Risiko darstellt und welches klar verboten ist.

Beobachter: Manche Lehrer reden mittlerweile von «null Körperkontakt» als sicherstem Weg.
Strittmatter: Solche absoluten Äusserungen sind blöd und eher ein Indiz dafür, dass der betreffende Lehrer ein Problem mit dem Thema Nähe und Distanz hat. Ich bin gegen diese Sterilisierung der pädagogischen Beziehung, die von verschiedenen Seiten gefordert wird.

Beobachter: In der Einleitung zum Merkblatt heisst es, Lehrer würden eine offene und sachliche Diskussion über Grenzen, über Nähe, über Berührungen vermissen. Warum ist es so schwierig, darüber zu sprechen?
Strittmatter: Es ist eben ein Tabu. Und das ist irgendwie auch gut so. Tabus haben eine wichtige Schutzfunktion. Wir verbannen etwas aus unserem Denkhorizont und sorgen so dafür, dass es nicht passiert. Wenn wir etwas enttabuisieren, riskieren wir eine Relativierung der Hemmschwelle. Das mag mit ein Grund sein, weshalb es in den letzten Jahrzehnten nur eine wirklich ungeschminkte und vertiefende Publikation darüber gab vor rund 15 Jahren, ein Doppelheft der Zeitschrift «Pädagogik» zum Thema Erotik in der Schule.

Beobachter: Wenn man also über Erotik im Klassenzimmer spricht, kommt es häufiger zu sexuellen Übergriffen – ist das Ihr Ernst?
Strittmatter: Nein, aber wir müssen das Dilemma anerkennen. Einerseits bin ich tatsächlich davon überzeugt, dass eine Enttabuisierung die Hemmschwelle senkt. Anderseits wirken Gespräche über Berührungen, Nähe und Gefühle auch schützend.

Beobachter: Noch einmal: Warum ist es so schwierig, darüber zu sprechen?
Strittmatter: Es ist nicht leicht zuzugeben, Versuchungen zu spüren beim Anblick einer knackigen Schülerin im nabelfreien Shirt. Man hat Angst, sich verdächtig zu machen. Dabei gehören solche Gefühle zum Lehreralltag; es wäre ein Zeichen von Professionalität, darüber zu sprechen. Gerade junge, unerfahrene Lehrer fühlen sich oft mit ihren Regungen allein gelassen. Die Gesellschaft pflegt halt immer noch das Idealbild des Lehrers als asexuelles Neutrum.

Beobachter: Asexuelles Neutrum?
Strittmatter: Genau, aber Lehrer sind keine geschlechtslosen Pädagogikmaschinen. Ein Lehrer mit Erfahrung kann seine Gefühle akzeptieren und gut damit umgehen.

Beobachter: Was heisst das?
Strittmatter: Ich kenne viele Lehrer, die das Kokettieren der Schülerinnen, die Erotik der Situationen als etwas Natürliches, Normales erleben. Die hören nicht ständig die Höllenhunde bellen. Diese Lehrer können sich aber auch sehr gut abgrenzen. Sie kennen ihre Wirkung auf andere Menschen und signalisieren klar: Ich bin nicht verführbar. Diese Eindeutigkeit ist sehr wichtig.

Beobachter: Was raten Sie einem jungen Lehrer, der von einer seiner Schülerinnen angehimmelt wird, Liebesbriefe erhält, vielleicht sogar eindeutige Angebote?
Strittmatter: Er sollte direkt mit der Schülerin reden. Was man anspricht, verliert die Zauberkraft. Er könnte ihr etwa Folgendes sagen: Du zeigst mir, dass ich dir viel bedeute. Aber ich bin dein Lehrer und du bist meine Schülerin. Du kannst nie meine Geliebte sein. Ich will, dass du das definitiv respektierst.

Beobachter: Soll der Lehrer sich auch an die Eltern der Schülerin wenden?
Strittmatter: Nur wenn es obsessiv wird. Sonst auf keinen Fall. Das wäre ein Vertrauensmissbrauch.

Beobachter: Was, wenn ein Lehrer überfordert ist mit der Erkenntnis, keine geschlechtslose Pädagogikmaschine zu sein?
Strittmatter: Wenn er damit allein bleibt, kann das ein grosses Problem werden. Dann braucht es eine professionelle Umgebung, die Zeichen lesen kann und die Lehrperson darauf anspricht. So ist es heute eine Aufgabe der Schulleitung, Lehrer, die ein Problem haben, anzusprechen und Hilfe anzubieten. Nötigenfalls Grenzen zu ziehen. Egal, ob es sich um eine Burn-out-Gefährdung oder um erotische Nöte handelt.

Beobachter: Sie selbst arbeiteten früher auch als Lehrer. Fiel es Ihnen schwer, Grenzen zu ziehen und zu respektieren?
Strittmatter: Das ist sehr lange her, über 30 Jahre. Später war ich auf der Stufe Universität und Erwachsenenbildung tätig. Aber auch da gelten dieselben Spielregeln. Die Rollen sollten immer klar verteilt sein: Ich bin der Lehrer und du bist die Lernende. Und das sollten wir nicht verwechseln.

Beobachter: Hat es bei Ihnen funktioniert?
Strittmatter: (Lacht) Ich muss zugeben, dass ich meine Frau als Kursteilnehmerin in einem meiner Kurse kennengelernt habe. Zunächst hatte ich den Reflex, unsere beiden Rollen auf keinen Fall zu vermischen. Aber dann war die Liebe doch stärker.

Anton Strittmatter ist Mitglied der Geschäftsleitung des Dachverbands Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH). Daneben ist er freiberuflicher Berater für schulische Organisationsentwicklung.

Quelle: Jupiterimages Stock-Kollektion

Der Leitfaden

Der Leitfaden «Persönliche Grenzen kennen und respektieren» kann für sieben Franken per Post bestellt werden: Verlag LCH, Ringstrasse 54, 8057 Zürich. Die Broschüre steht auch als Gratisdownload auf der LCH-Website zur Verfügung: Download Leitfaden (PDF)