Noch vor Mittag summt am Sonntag der Pager. Daniel Eisenhart, Oberarzt am Institut für Rechtsmedizin St. Gallen, muss ausrücken. Zu einem Haus in einer Bodenseegemeinde, einem Haus, gelegen an einer gewöhnlichen Quartierstrasse, nicht auffälliger als die Nachbarhäuser, schweizerischer Durchschnitt.

Im Innern: eine andere Welt. Ein Kleiderständer voller Tierfelle, eine Bar, von den Lampen hängen Ketten, ein Whirlpool, in den Schubladen der Kommoden Frauenkleider, Unterwäsche, Dessous. Im Haus aber wohnte ein Mann. Seine Leiche liegt halbnackt auf dem Bett. Schwarz und lederartig spannt sich die Haut über die Knochen, der aufgedunsene Bauch wölbt sich rund wie ein Ball. Im ganzen Haus: Verwesungsgeruch. Der Mann ist seit mehreren Wochen tot. Mumifizierung nennt der Rechtsmediziner den Prozess, bei dem organische Gewebe durch rasche Austrocknung konserviert werden. Bei der Besichtigung will der Amtsarzt ein Loch im Schädel entdeckt haben. Vielleicht eine Schusswunde. Daniel Eisenhart aber sieht sofort: Hier fiel kein Schuss. Das Loch im Kopf ist auf natürliche Weise entstanden: durch Tierfrass.

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Die sterblichen Überreste von Ylenia
«Ich mag meinen Job. Immer wieder sehe ich in fremde, manchmal bizarre Welten hinein», sagt Eisenhart. Was muss er sich, wenn die Rede auf seinen Beruf kommt, an vorgefassten Meinungen anhören! «Die härtesten Angriffe», der jugendlich sympathisch wirkende Arzt sagt es lächelnd, «kommen von Kollegen.» Alkoholiker seien sie alle, oder depressiv. Unbeteiligten die Faszination des Berufs zu vermitteln sei schwierig. Die Rechtsmedizin polarisiere: «Entweder man kann gar nichts damit anfangen, oder man ist fasziniert davon.»

Im fünften Jahr seines Medizinstudiums, beim ersten Kontakt mit Patienten, habe er festgestellt: Durch Spitalflure gehen, Kranke betreuen, das liegt ihm nicht. Sein Interesse für die Kriminalistik wies ihm den Weg. Seit sechs Jahren ist er jetzt Rechtsmediziner, ein Spezialist in den Arten des Zu-Tode-Kommens.

Das Institut für Rechtsmedizin (IRM) in St. Gallen liegt unter Kastanienbäumen, inmitten der parkähnlichen Anlage des Kantonsspitals. Es geriet vor rund sechs Wochen unfreiwillig ins Scheinwerferlicht der Medien: Im IRM wurden die sterblichen Überreste von Ylenia untersucht. Mit dem Ergebnis, dass das fünfeinhalbjährige Mädchen weder sexuell missbraucht wurde noch durch die Einwirkung von massiver Gewalt gestorben ist. «Die Obduktion von Kindern», sagt Eisenhart, «ist stets extrem belastend.»

Das Institut ist ein reiner Dienstleistungsbetrieb, für Forschung bleibt wenig Zeit. Im Auftrag von Gerichten, Polizei, Versicherungsanstalten untersuchen die Mitarbeitenden lebende und verstorbene Personen auf Verletzungen. Sie versuchen dabei, die kriminalistisch wichtigen Fragen nach den Umständen und dem Ablauf des schädigenden Ereignisses zu beantworten. Das Team ist klein, die Atmosphäre familiär, am Freitagabend trifft man sich auch mal zum Grillieren beim Chef.

Die Leichenöffnungen finden im Untergeschoss statt. Der Raum ist niedrig, weiss gekachelt, Neonröhren ziehen sich der Decke entlang, durch eine kleine, ebenerdige Fensterreihe fällt Tageslicht. Auf dem Sektionstisch aus Chromstahl liegt eine nackte Männerleiche. Ihr Gesicht ist maskenhaft erstarrt, der Mund steht halb offen, auf der Haut haben sich Totenflecke gebildet, Livores, so der wohlklingende Fachbegriff. Nirgends aber prägt der Tod dem Menschenkörper seinen Stempel so deutlich auf wie an den Augen. Eingetrübt sind sie, glanzlos wie verdorbene Sülze.

Im Leben war der Mann ein Landwirt. Man fand ihn auf seinem Bauernhof, allein. Polizeifotos zeigen den Toten in einem landigrünen Arbeitsanzug, hingestreckt neben der Stallwand, unnatürlich verrenkt die Glieder, das Gesicht in der Erde, Todesursache: unklar. In der Sprache der Behörden ist das Ableben des Bauern ein aussergewöhnlicher Todesfall, kurz, ein «agT». Wir sterben in unseren Breitengraden meist an einer Krankheit. Tritt der Tod aber plötzlich ein oder unerwartet oder sind die Umstände kritisch, wie etwa bei einer Wasserleiche, einem Absturz aus grosser Höhe oder bei auffälligen Wunden, dann spricht der Rechtsmediziner von einem «agT». Ein solcher zieht oft eine Autopsie nach sich, von Gesetzes wegen. Ziel der Leichenöffnung ist es, Aufschluss zu erhalten über die Todesursache.

Denken, nicht glauben
«Fangen wir an», sagt Eisenhart. Er führt den Schnitt vom Hals über das Brustbein zum Bauch. Die Haut weicht auseinander und gibt den Blick frei auf das darunterliegende Fettgewebe. Es ist hellgelb, eine kräftige Farbe - erstaunlich kräftig für totes Gewebe. Die äusserliche Besichtigung der Leiche hat ergeben: eine U-förmige Rotverfärbung am linken Oberbauch. «An der Haut», sagt Eisenhart, konzentriert über den Leichnam gebeugt, «sieht man viel. Einwirkungen von stumpfer oder scharfer Gewalt, Kälte oder Hitze, wobei», er richtet sich kurz auf, wendet sich an die Anwesenden, gibt seiner Stimme einen bestimmteren Tonfall, «die Abwesenheit von Verbrennungen einen Stromtod nicht auszuschliessen vermag.» Die U-förmige Verletzung könnte ein Hinweis auf eine Gewalteinwirkung von aussen zu Lebzeiten sein. Dann aber wäre das darunterliegende Fettgewebe eingeblutet. Die Kontrolle ergibt: Das Gewebe ist intakt, die Verletzung erfolgte post mortem, nach dem Tod. Die Verletzung steht mit der Todesursache in keinem Zusammenhang.

Der gute Rechtsmediziner hält zu Beginn der Untersuchung stets alles für möglich. «Wer zu schnell glaubt, hört auf zu denken», mahnt ein Plakat im Rapportraum des Instituts. Meldet die Polizei eine Bahnleiche, scheint Suizid die naheliegende Erklärung zu sein. Der vorschnelle Schluss wird dazu führen, so die Lehrmeinung, dass man am Schauplatz nur nach Spuren suche, die die Suizidthese stützten, andere Hinweise fänden keine Beachtung. Die Folge: Möglicherweise bleibt ein Verbrechen ungesühnt, ein Mörder auf freiem Fuss. Der Rechtsmediziner trägt eine hohe Verantwortung.

Juliana Reiser wusste von Anfang an, dass ihre berufliche Karriere sie in die Autopsiesäle führen würde. Im April hat sie in Leipzig ihr medizinisches Staatsexamen bestanden. Seit drei Monaten arbeitet sie als Assistenzärztin am St. Galler Institut, der Beginn ihrer Facharztausbildung, die fünf Jahre dauern wird. Rechtsmedizin ist bei jungen Studierenden beliebter geworden, seit Film- und Fernsehregisseure die Sparte entdeckt haben.

Die Sache mit dem Geruch
«CSI» ist laut dem Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» die derzeit erfolgreichste TV-Serie der Welt. Helden der Serie - die Abkürzung steht für Crime Scene Investigation, zu Deutsch so viel wie Tatortuntersuchung - sind nicht Raubeine mit Pistole im Schulterhalfter, sondern Naturwissenschaftler, Chemiker, Biologen, ihre Waffen sind Pinzette und Mikroskop. «Wir arbeiten mit der Polizei zusammen und mit Untersuchungsrichtern. Ich mag das kriminalistische Flair. Zudem können wir sehr frei arbeiten», erklärt Reiser. Aber natürlich, man müsse es «abkönnen». Und, kann sie es aushalten? «Ja, meistens.» Nur ihr Freund schätze es weniger, wenn sie abends von der Arbeit erzähle.

Aus dem Körper des Toten entfernt Daniel Eisenhart im Fortschreiten der Obduktion sorgfältig Lunge, Leber, Herz, Milz, Magen. Die Organe werden gewogen und in einer Schale für die spätere Untersuchung bereitgestellt. Eisenhart sucht nach krankhaften Veränderungen im Gewebe, aber auch nach Einblutungen. Diese können, sofern sie noch zu Lebzeiten erfolgten, durch eine Gewalteinwirkung entstanden sein. Auch die Körperflüssigkeiten können Hinweise auf die Todesursache liefern: Abgefüllt in Plastikfläschchen, werden sie in die toxikologische Abteilung des Instituts gebracht. Nach der Untersuchung werden alle Organe in den Körper zurückgelegt. Im Institut wird, so führt Eisenhart aus, grösster Wert darauf gelegt, dass man der Leiche ihre Öffnung nicht ansieht.

Es riecht nach kaltem Blut im Raum. Oder nach dem, was man für den Geruch von kaltem Blut hält. Geht draussen im Flur die Tür zum Kühlraum auf, breiten sich sofort Schwaden von intensivem Verwesungsgeruch aus. Im Kühlraum liegt die drei Wochen alte, mumifizierte Leiche aus der Bodenseegemeinde. Ihre Obduktion steht am Nachmittag auf dem Programm. Die Untersuchung wird ergeben: kein Gewaltverbrechen, der Mann starb eines natürlichen Todes. «Der Geruchssinn hat einen grossen Vorteil», sagt Eisenhart, «nämlich seine Fähigkeit zur Anpassung. Wird man über einen gewissen Zeitraum einem Geruch ausgesetzt, wird dieser nicht mehr wahrgenommen.» Der Grund liegt in der Sättigung der Rezeptoren, die keine Signale mehr an das Gehirn weiterleiten. Die Reduktion der Geruchsempfindlichkeit ist jedoch nur temporär. «An den Geruch von Verwesung gewöhnt man sich nur schwer.» Nachts etwa, oder in hungrigem Zustand, sei er kaum erträglich.

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«Manchmal finde ich schon merkwürdig, was ich tue»: Daniel Eisenhart


Verwesung ist einer der Prozesse, die den Zerfall des menschlichen Körpers besorgen. Wenige Minuten nach dem Tod beginnt, was die Rechtsmedizin Autolyse nennt: die Selbstauflösung der Zellstrukturen. Dann setzen Mikroorganismen Fäulnisprozesse in Gang, die entstehenden Gase treiben den Körper auf wie einen Ballon. Genaue Feststellungen des Todeszeitpunkts, wie sie Rechtsmediziner in den Fernsehserien dann noch treffen, gehören ins Reich der Fiktion. Genauigkeit im Stundenbereich ist in der Realität nur in den ersten 48 Stunden möglich.

«Das ist das Organ, das uns interessiert», sagt Eisenhart. Ein kurzes Aufleuchten in den Augen verrät den detektivischen Eifer des Rechtsmediziners, als er mit der Untersuchung beginnt. Auf dem kleinen Podest am Fussende des Seziertisches liegt, sauber abgespült, das Herz des Landwirts. Rund 660 Gramm wiegt es. Eisenhart schneidet ein Stück des Muskels heraus und deponiert es in einem sterilen Plastikbehälter. Die spätere mikroskopische Untersuchung des Gewebes kann möglicherweise wertvolle Aufschlüsse über die Todesursache liefern.

«Ich nehme nie Arbeit mit nach Hause»
Es sind diese kriminalistischen Fragen, die Eisenhart an seinem Beruf faszinieren. In einem Schrank im Büro lagert er die Beweisstücke der noch nicht abgeschlossenen Fälle. Ein Schädel etwa, zertrümmert, die Bruchlinien zur Verdeutlichung mit roter Farbe nachgezeichnet. Der Schädel erzählt eine grausige Geschichte. Ein Mann erschlägt in einem Wutanfall - «Wie ein Pflug ging es mir durch den Brustkorb», wird er später vor Gericht sagen - seine Frau. Er hat jetzt ein Problem: Wohin mit der Leiche? Er versucht Teile davon in Ameisensäure aufzulösen, die aber ist zu schwach. Er versucht es in Coca-Cola, die Brauselimonade soll, so geht das Gerücht, Muskelfleisch auflösen können. Der Täter muss feststellen: Es ist nur ein Gerücht. Er beginnt die Leiche zu zerstückeln - fachmännisch, der Mann hat eine Ausbildung als Metzger -, geht tagsüber arbeiten und verrichtet abends sein makabres Werk. Am siebten Tag versagen seine Nerven, er stellt sich der Polizei.

Wie erholt sich Eisenhart von diesen unfreiwilligen Einblicken in die Abgründe der menschlichen Seele? Wie kann er sich entspannen? Er habe ein eisernes Prinzip: «Ich nehme nie Arbeit mit nach Hause.» Und Erholung, die finde er bei seiner Familie und bei seiner grossen Passion, der Fotografie, erzählt Eisenhart. Und dann, sinnierend: «Manchmal finde ich schon merkwürdig, was ich tue.» Wenn er aus den Ferien zurückkomme etwa, dann spüre er einen Widerstand, müsse sich von neuem gewöhnen daran, an die Gerüche, an die Autopsien. Rechtsmediziner gebe es, die könnten keine Leiche mehr sehen. Ob er einst als Rechtsmediziner pensioniert werde, das wisse er nicht.

Das Herz war zu schwer
«Eine Autopsie», und dies scheint eine Art Fazit zu sein, die Eisenhart aus seinen Zweifeln gezogen hat, «ist immer Mittel zum Zweck. Ich gebe jemandem eine Stimme, der für sich selber nicht mehr sprechen kann.» Er legt den fünfseitigen Bericht über den «agT» des Landwirts ins Fach. Todesursache war weder Gewalt von aussen noch Strom - auf Bauernhöfen ein nicht seltener Unfall - noch eine Vergiftung. Die histologische Untersuchung hat Eisenharts erste Vermutung bestätigt. Ab einem Gewicht von 500 Gramm kann ein Herz spontan zu schlagen aufhören, weil die Kranzarterien nicht mehr genug Sauerstoff herbeischaffen können. 660 Gramm wog das Herz des Landwirts. Übergross, hat es der letzten körperlichen Belastung nicht standgehalten, ein Herzinfarkt.

Quelle: Stock-Kollektion colourbox.com