Der schlimmste Moment ist der, in dem «Korso» in den Anhänger hineingeht. Es ist 6.45 Uhr, der Morgen ist noch unberührt. «Korso» kommt aus dem Stall und schaut mit seinen grossen, dunklen Augen in die Runde, bevor er über die kleine Rampe in den Tiertransporter trottet. Dann schliesst die Bäuerin mit raschen Handgriffen die Tür. Das metallische Scheppern der Verriegelung klingt endgültig. In einer halben Stunde wird «Korso» geschlachtet.

Weil ich sein Fleisch essen will. Vor fünf Wochen habe ich im Internet für 179 Franken vier Kilo Fleisch von einem Black-Angus-Rind bestellt. Von «Korso». «Crowdbutchering» nennt sich das. Man könnte sagen, es handle sich dabei um eine digitale Version der Metzgete: Früher schlachtete der Bauer eine Kuh für sich und seine Grossfamilie, und das Fleisch wurde das Jahr hindurch gegessen. Heute kennen die Menschen, die gemeinsam ein Rind teilen, einander nicht mehr – aber das Prinzip ist gleich geblieben.

Doch vorerst ist «Korso» noch kein Fleisch, sondern ein Tier. Auf der Website steht: Er lebt auf einem kleinen Biobauernhof Biologischer Landbau Der Wechsel trägt Früchte in Courtelary im Berner Jura, gemeinsam mit seiner Mutter Kon-Tiki, sein Vater ist der Stier Anton. «Korso» trägt die Ohrmarkennummer CH 120.1443.6281.8. Das Berner Start-up «Kuhteilen» ist eine Art Gegenmodell zur landläufigen Metzgerei: Das Angebot ist klein, dafür gibt es viele Informationen. Ich mache Ernst mit der Rückverfolgbarkeit und frage die Bäuerin, ob ich «mein» Rind besuchen könne. Sie willigt ein.

«Schön ist der Abschied nie»

Courtelary liegt im Vallon de Saint-Imier, die meisten Einwohner sprechen Französisch, die Schokoladenfabrik Camille Bloch steht hier. Auf einem Bauernhof am Hang lebt Rebecca Hodel mit ihrer Tochter. Sie halten 15 Angusrinder, Pferde, eine kleine Herde Zebus. Nächstes Jahr wollen sie vielleicht mit Bienen anfangen.

Wir gehen auf die Weide hinter dem Haus. Im Schatten der Tannen ruht die Kuhherde. Die Angusrinder sind kräftig gebaut, schwarz oder rötlich braun. Sie haben von Natur aus keine Hörner. Schön sehen sie aus. Von Fremden lassen sie sich nicht einfach so streicheln. «Eine gewisse Wildheit bleibt», sagt Hodel. Denn anders als Milchkühe Kuhmilch Schweizer Bauern spritzen rekordmässig Antibiotika müssen Mutterkühe zum Melken nicht in den Stall. Sie verbringen den ganzen Sommer draussen auf der Weide.
 

«Kühe sind neugierige und intelligente Tiere, die soziale Bindungen zu ihren Artgenossen aufbauen.»

Angela Martin, Tierethikerin


Hodel zeigt auf ein samtschwarzes Rind, das in unsere Richtung schaut. Das ist «Korso». «Er ist ein ganz Cooler», sagt sie. Geboren wurde er am 28. August 2018 frühmorgens auf der Weide. Hodel gab dem Kalb einen Namen. «Solange die Tiere hier sind», sagt sie, «behandle ich sie alle gleich.» Nie käme es ihr in den Sinn, vor einem Tier zu sagen: «Du gehst ja sowieso bald weg.» Nicht einmal denken würde sie so etwas.

Dennoch wird «Korso» in wenigen Wochen «gehen müssen». Er wird dann elf Monate alt sein, noch im Kindesalter. Schön sei der Abschied nie, sagt Hodel und hält einen Moment inne. Manchmal tue es ihr richtig leid. Noch während sie das sagt, fühle auch ich das Bedauern. Ich frage mich, ob es richtig ist, diese Gefühlsregung einfach zu ignorieren.

«Kühe haben eine Lebenserwartung von bis zu 20 Jahren», sagt die Philosophin Angela Martin, die an der Uni Basel zu Tierethik forscht. Ist es gerechtfertigt, Tiere zu töten, um sie zu essen Tierhaltung Wie gut geht es unseren Tieren wirklich? ? «Kühe sind neugierige und intelligente Tiere, die soziale Bindungen zu ihren Artgenossen aufbauen», sagt sie. Sie hätten ein grundlegendes Interesse daran, weiterzuleben, um auch in Zukunft glückliche Momente erleben zu können. Bei Haustieren respektierten wir dieses Interesse. «Warum nicht auch bei Nutztieren?»

Fleischkonsum auf einen Drittel reduzieren

«Vielleicht werden wir eines Tages kein Fleisch mehr essen Fleischlos glücklich 9 Alternativen zu Fleisch », sagt Biobäuerin Hodel. Bis es so weit ist, wird sie auf ihrem Hof Fleisch produzieren. «Etwas anderes ginge hier nicht. Das Land ist für Ackerbau zu steil.» Es ist ihr wichtig, dass ihre Rinder nur Futter vom eigenen Hof fressen. Gras, Heu und das halbgetrocknete, in runde Ballen verpackte Heu, das man Heulage nennt. «Ich verfüttere nichts, was importiert wird, und nichts, was Menschen essen können.»

Mit dem Angusrind kann sie diese Philosophie umsetzen. Die Rasse zählt zu den typischen Fleischrassen: Die Tiere sind gefrässig und legen schnell an Gewicht zu. Da sie aber klein gewachsen, genügsam und robust sind, kommen sie ohne Kraftfutter aus.

Auch wenn Rebecca Hodel ihre Kühe möglichst umweltverträglich hält – aus ökologischer Sicht bleibt die Rinderhaltung problematisch, weil sie viele klimaschädliche Emissionen verursacht. Dennoch ergebe Hodels Hof in einem Gesamtkonzept für eine nachhaltige Ernährung Sinn, sagt der Ökobilanzen-Spezialist Niels Jungbluth. Denn eine rein vegane Ernährung Vegan leben Der Stachel im Fleisch könne nicht generell empfohlen werden: Um sich vegan und trotzdem ausgewogen zu ernähren, muss man einiges über Ernährung wissen. Dieses Wissen hätten nicht alle.

Eine rein vegetarische Gesellschaft funktioniere ebenfalls nicht: «Wenn wir Milchprodukte wollen, gibt es auch Rindfleisch. Denn Kühe geben nur Milch, wenn sie jedes Jahr ein Kalb bekommen.»

Jungbluth fände es deshalb am vernünftigsten, wenn wir den Fleischkonsum in der Schweiz auf etwa einen Drittel der heutigen Menge reduzierten. Damit wir kein Fleisch und Futter mehr importieren müssten. Unter diesen Umständen sei es ökologisch sinnvoll, auf Flächen, die anders nicht zu nutzen sind, Fleisch zu produzieren. Mit ein bisschen Spitzfindigkeit kann ich also sagen: Mir würden in diesem Szenario noch 400 Gramm Fleisch pro Woche zustehen. Damit bin ich mehr als zufrieden.
 

«Ich kann keine Kompromisse mehr machen.»

Moritz Maier, Mitinitiant von «Kuhteilen»


Auch Moritz Maier, Mitinitiant von «Kuhteilen», isst nicht jeden Tag Fleisch. Obwohl er von einem Brisket – Siedfleisch am Knochen – oder einem Ochsenschwanz durchaus schwärmen kann. Der Mann, der früher in der IT-Branche tätig war und wie ein Bauernsohn mit Vorliebe für gutes Essen aussieht, sagt: «Ich kann keine Kompromisse mehr machen.» Das gilt für die Qualität des Fleisches Tierhaltung Wie billig darf das Poulet sein? . Und das Tierwohl. Denn das eine sei vom anderen nicht zu trennen.

Maier bietet nur Rinder an, die, wenn immer möglich, auf der Weide sind. Die Bauern müssen die Tiere selbst zum Schlachten bringen, und die Fahrt darf höchstens 20 Minuten dauern. Das sei für die Tiere weniger stressig, als wenn sie in einen Lastwagen gepfercht und quer durch die Schweiz gekarrt würden. «Ein gestresstes Rind schüttet Adrenalin aus. Beim Kochen wird das Fleisch zäh.»

Biobäuerin Rebecca Hodel führt Rind «Korso» in einen Anhänger

Seelenruhig trottet «Korso» in den Anhänger. 

Quelle: Fabian Hugo

Rebecca Hodel hat «Korso» gestern Abend in den Stall geholt, geputzt und massiert. Heute Morgen hat sie ihn gemeinsam mit einem zweiten Rind verladen. Nun fährt sie mit dem Anhänger, auf dem in grossen Buchstaben «Lebende Tiere» steht, zur Metzgerei im Nachbardorf. Die Wolken hängen wie ein Deckel im Tal und lassen es eng und begrenzt erscheinen. Vor dem kleinen Schlachtraum im Hof warten die Tierärztin, blauer Kittel, und der Metzger, weisse Schürze.

Die Amtstierärztin Helen Fritz prüft, ob die Tiere gesund und sauber sind und die Tierschutzvorschriften eingehalten wurden. Im Anhänger ist es ruhig, nur einmal ruckelt es ein bisschen. Vielleicht möchte «Korso» raus.

Nicht schön anzusehen, aber auch nicht würdelos

Doch nun kommt der Metzger, ein Jagdgewehr in der Hand. Er geht zackig, wirkt konzentriert. Er schaut in den Anhänger, legt an und zielt aus kurzer Distanz auf die Betäubungsstelle am Kopf. Es ist ganz ruhig. Bis ein lauter Schuss ertönt. Im Anhänger poltert es, «Korso» stürzt. Sogleich wird das zweite Rind betäubt.

Laurent Soldati legt das Gewehr beiseite und öffnet den Anhänger. Die Metalltür scheppert zu Boden. Keiner spricht ein Wort, alle machen zielstrebig, was notwendig ist. Soldati habe sauber getroffen, stellt die Tierärztin fest. Das Gehirn von «Korso» wurde vom Schuss so stark geschädigt, dass er sofort das Bewusstsein verloren hat. Er nimmt nichts mehr wahr und empfindet auch nichts mehr. Tot ist er aber noch nicht.

Soldati und sein Gehilfe legen Ketten um Korsos Füsse und ziehen ihn mit einer Seilwinde in den Schlachtraum. Mit einem Messer öffnet der Metzger die grossen Blutgefässe in der Nähe des Herzens. Blut fliesst auf den Boden. Der Fotograf ist angehalten, keine Bilder zu machen. Aus Respekt vor dem sterbenden Tier. Durch den Blutentzug wird Korsos Gehirn nicht mehr mit Sauerstoff versorgt, und der Tod tritt ein.

Der Metzger trennt den Kopf ab. Er schneidet die Zunge raus, hängt sie auf, auch den Kopf, für die Fleischkontrolle. Die Seilwinde zieht den Tierkörper in die Höhe und danach das schwarze Fell ab. Soldati schlitzt den Bauch des Tieres auf, riesige Mägen und ein Haufen Darm fallen heraus. Es riecht nach Fell und Blut. Die Wärme des toten Körpers erfüllt den ungeheizten Raum. Aus einem der vier Mägen quillt ein Berg von grünem Gras. Soldati hackt den Schlachtkörper mit einem Beil in zwei Hälften. Er arbeitet mit grossem Ernst. Es ist nicht schön, das mit anzusehen. Aber es ist auch nicht würdelos.

Metzger Laurent Soldati legt zum Schuss an

Metzger Laurent Soldati legt zum Schuss an.

Quelle: Fabian Hugo
Das Prinzip: Alle bekommen von allem

Bald hängen rund 180 Kilo Fleisch von der Decke. Die Hüfte zuckt noch leicht. «Das sind die Nerven», sagt Metzger Soldati. Morgen werden die Rinderviertel in die Metzgerei Liechti in Röthenbach, Emmental, gebracht. Dort reifen sie 26 Tage am Knochen. Das Dry-Aging-Verfahren ist aufwendig, macht das Fleisch aber besonders aromatisch.

Die einzelnen Cuts verteilt Moritz Maier nach dem «Nose to Tail»-Prinzip: Niemand erhält nur Steaks – alle 20 Käufer bekommen auch Siedfleisch, Ragout, Saftplätzli, Hackfleisch und Würste St. Galler Kalbsbratwurst Die wahre Wurst . So wird gewährleistet, dass es kein Food-Waste gibt. Innereien können bei «Kuhteilen» separat bestellt werden, auch Restaurants sind Abnehmer. Die Knochen werden zu Fonds eingekocht. «Damit verdient man kein Geld», sagt Maier. «Es geht ums Prinzip.»

Fleisch am Haken: Dry-Aged Beef

Rund 180 Kilo Fleisch kommen 26 Tage an den Haken. Dann ist es Dry-Aged Beef.

Quelle: Fabian Hugo

«Es gibt viele gute Gründe, kein Fleisch zu essen. Solange wir es tun, sollten wir es bewusst machen.»

Julia Hofer, Beobachter-Redaktorin


Ich öffne das Paket, das der Pöstler gebracht hat. Die sauber abgepackten, vakuumierten Fleischstücke lege ich in den Tiefkühler. Zwei Steaks und eine Wurst auf den Grill. Das Fleisch ist fein marmoriert, saftig, aromatisch, zart. Fleisch, das in einer eigenen Liga spielt.

Seit ich mit anderen eine Kuh geteilt habe, kaufe ich nur noch selten Fleisch im Supermarkt. Jedes Mal, wenn ich vor der Fleischtheke stehe, kommt mir «Korso» in den Sinn, wie er auf der Weide grast. Wie er auf dem Betonboden des Schlachthofs liegt. Bilder von seinem Magen, in dem sich grünes Gras befindet, der Geruch nach Fell und Stall. Fleisch wächst nicht auf Bäumen.

Auch wenn ich das natürlich immer gewusst habe – ich weiss es nun anders. Ich weiss, wo «Korso» gelebt hat. Wie er gelebt hat. Wie er gestorben ist. Ich weiss, dass er ein gutes Leben hatte. Wenn auch ein kurzes. Wahrscheinlich ein zu kurzes. Es gibt viele gute Gründe, kein Fleisch zu essen. Solange wir es tun, sollten wir es bewusst machen.

Was ist Crowdbutchering?

Das Konzept «Crowdbutchering» stammt aus Belgien und den Niederlanden, in der Schweiz bietet «Kuhteilen» seit 2014 eine Alternative zu Fleisch aus anonymer Massenhaltung. Die Firma lässt im Auftrag ihrer Kunden Rinder, Schweine und Lämmer metzgen. Die Tiere stammen entweder vom Bio- oder Demeterhof oder gehören einer seltenen oder besonderen Rasse an, oft stammen diese Tiere aus einer Pro-Specie-Rara-Zucht.

Wer wissen möchte, woher sein Fleisch kommt, kann sein Fleischpaket natürlich auch direkt ab Hof bestellen. Die meisten Bauern verkaufen allerdings grössere Pakete von 10 bis 20 Kilo. In der Regel haben die Bauern auch nicht die Möglichkeit, ganze Rinderhälften abhangen zu lassen. Anstatt Dry Aging machen sie Wet Aging: Das Fleisch wird zugeschnitten und reift im Beutel.

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