«Nie hast du Zeit für mich, alles andere ist dir wichtiger!» Oder: «Hätten wir diese Paartherapie vor einem Jahr begonnen, wäre vieles möglich gewesen, jetzt ist es zu spät.» Diese beiden Sätze verdeutlichen zwei wesentliche Bedeutungen des Faktors Zeit in Paarbeziehungen: zum einen die Quantität der Zeit, zum anderen die Relevanz des richtigen Zeitpunkts. Um diese beiden Aspekte soll es hier gehen.

In der griechischen Mythologie wurden zwei Gottheiten für die Zeit unterschieden: Chronos und Kairos. Chronos verkörpert die Lebenszeit, die Quantität der Zeit. Entsprechend wird er mit Sense und Sanduhr dargestellt, den Symbolen für Vergänglichkeit. Kairos ist der Gott des flüchtigen Augenblicks oder des richtigen Zeitpunkts für eine Entscheidung oder Handlung. Er wird mit vorne langem und hinten geschorenem Haar abgebildet. Wenn man die Gelegenheit nicht beim Schopf packt, ist sie vorbei. Chronos wie Kairos sind für die Zufriedenheit und den Verlauf von Paarbeziehungen entscheidend.

Wie die Zeit verbracht wird, macht einen Unterschied

Fangen wir mit Chronos an: Wie viel Zeit verbringen Paare zusammen? Stimmt es, dass sie nur vier Minuten pro Tag miteinander reden, wie vor einigen Jahren eine britische Umfrage suggerierte?

Zeitbudget-Studien zeigen, dass Paare abends zwischen 18 und 21.30 Uhr am meisten gemeinsame Zeit verbringen. Im Durchschnitt rund fünf Stunden pro Tag. Miteinander geredet wird mehr als 100 Minuten, drei Viertel davon von Angesicht zu Angesicht. Unklar bleibt, ob der Abwasch ebenso als gemeinsame Zeit verstanden wird wie der Feierabendschwatz.

Für die Beziehungszufriedenheit macht es einen Unterschied, wie die Zeit gestaltet wird. Während fernsehen, nebeneinander auf dem Sofa sitzen und ins Handy starren oder zusammen essen unbedeutend sind, ist gemeinsame Zeit dann gut genutzt, wenn man dem Partner, der Partnerin von sich erzählt, ihn oder sie Anteil haben lässt an seinem Leben oder Zärtlichkeiten austauscht. Solche Momente werden als Qualitätszeit empfunden und stärken das «Wir-Gefühl».

«Oft sind es kleine Momente im Alltag, in denen die Präsenz des Partners erhofft wird.»

Guy Bodenmann, Paartherapeut

Sich füreinander Zeit nehmen ist Voraussetzung für emotionale Selbstöffnung und persönliche Begegnung, für die emotionale Investition in die Partnerschaft Psychologie-Kolumne «Wer die Liebe pflegt, wird sie erhalten» . Entsprechend ist nachvollziehbar, dass Quantität weniger als Qualität zählt. Und die Beziehungszufriedenheit am stärksten davon abhängt, wie positiv man die gemeinsam verbrachte Zeit bewertet. Bei Fernbeziehungen mit relativ wenig gemeinsamer Zeit sind diejenigen Paare zufriedener, die einsehen, dass diese Form der Beziehung notwendig ist, zum Beispiel aus beruflichen Gründen. Sie sind aber unzufrieden, wenn die Situation veränderbar wäre, wenn der oder die andere dies nur wollte.

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Schlüsselmomente prägen die Paarbeziehung

Und nun zu Kairos. In Paartherapien höre ich immer wieder den Satz: «Damals, als ich dich am meisten gebraucht habe, hattest du keine Zeit für mich. Das habe ich dir nie verziehen.» Hier geht es nicht um die Quantität der Zeit, sondern um die zeitliche Verfügbarkeit. Oft sind es solche persönlichen Schlüsselmomente, die in Erinnerung bleiben und auch Jahre später mit Gefühlen von Groll oder Verbitterung Erwartung an andere «Dich interessiert überhaupt nicht, wie es mir geht!» einhergehen – oder im Gegenteil auch mit Dankbarkeit, wenn der Partner, die Partnerin damals für einen da war.

Oft sind es kleine Momente im Alltag, in denen die Präsenz des Partners, der Partnerin erhofft werden, ein kurzes aufmunterndes Wort, eine flüchtige Zärtlichkeit oder eine besondere Aufmerksamkeit. Geht der Partner darauf ein, dass ich ihn gern an meiner Seite hätte? Packt die Partnerin die Gelegenheiten beim Schopf, oder lässt sie diese ungenutzt verstreichen? Oftmals ist es Kairos, der das Zünglein an der Waage spielt: «Wir hatten nie viel Zeit für uns, doch in entscheidenden Momenten konnte ich immer auf dich zählen.»

Zur Person
Guy Bodenmann

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