«Joker, komm», ruft Monika Spoerlé und winkt mit einer Schachtel Vollkornbiskuits. Joker steht in einem grossen Wasserbecken und geniesst sichtlich die Abkühlung an dem sommerlich warmen Nachmittag. Joker ist ein Wildschwein und kennt keine Eile. Ganz im Gegensatz zu den Hunden, die dem Ruf sofort folgen. Auch Esel, Schaf und Pferde belagern Monika Spoerlé. «Wenn es ums Fressen geht, kommen sie alle.» Und schliesslich auch Joker. Er steigt gemächlich aus seinem Becken, schüttelt sich wie ein nasser Hund und trippelt zu Monika Spoerlé, die alle nur Moni nennen. «Joker, sitz!», befiehlt sie, und Joker, das Wildschwein, macht Sitz und frisst die Kekse aus Monis Hand.

Auf dem idyllisch gelegenen Bauernhof mit zwei Hektaren Land, dem «Tierlignadenhof», unweit des Aargauer Dorfes Kaisten, leben über 100 Tiere. Monika Spoerlé, 62, ist Herrin auf dem Hof, auf dem sie vor 14 Jahren das Tierasyl gründete und damit ihre Vision verwirklichte: einen Ort, wo Tiere Geborgenheit finden und Menschen über die Tiere mehr Menschlichkeit lernen können. Anfangs wurde im Dorf über die Auswärtige getuschelt. «Die Sau im Bett, oh, wie ist das nett» und ähnliche Sprüche machten sogar an der Fasnacht die Runde.

Die Tiere fordern ganzen Einsatz

«Auf Dauer hätte ich das nicht ausgehalten», sagt Moni heute. Doch die Zeiten haben sich geändert, und inzwischen haben die meisten Freude am «Tierlignadenhof»; einige kommen, um bei Moni ihre Sorgen abzuladen. Denn sie ist ein warmherziger Mensch und eine gute Zuhörerin, auch wenn ihr eigentlich die Zeit dazu fehlt – die Tiere fordern ihren ganzen Einsatz.

Und sie gibt alles für ihr Lebenswerk, sogar ihre Gesundheit. Vor einiger Zeit ist sie beim Reinigen der Regenrinnen vom Dach gefallen und hat sich das Schambein gebrochen. Seither hat sie Schmerzen, und Schuppenflechten plagen sie schon seit Jahren. «Wegen der Sorgen», glaubt sie. Es sind existentielle: um die Finanzen und die ungeklärte Nachfolge. Seit sie den Hof betreibe, habe sie nie ausgeschlafen, nie Ferien gemacht. Immer ist Moni für die Tiere da – und das war schon früher so.

Bei den Eltern stiess die Tierliebe in ihrer Jugend auf Unverständnis. «Ich war kein glückliches Kind», erzählt sie. «Der Vater war ein Frauenheld, und ständig gab es Streit.» Sie war 14, als der Vater Selbstmord beging. Mit 17 wurde sie schwanger, mit 18 noch einmal. «Ich habe Liebe gesucht», sagt Moni, die sich und ihre beiden Töchter mit Restaurantjobs und der Arbeit für Banken durchbrachte. Gefunden hat Monika Spoerlé diese Liebe nie, zumindest nicht auf Dauer.

Hat es noch Platz für ein Schaf?

Der Hof bekommt Besuch. Der Neuankömmling trägt eine Taube mit sich. Rasch scharen sich einige Pferde und das Hunderudel um ihn. Die Taube sei verletzt, sagt der Mann und übergibt sie Moni. Sie untersucht das Tier. Der Flügel ist nicht gebrochen, vielleicht ist der Vogel nur erschöpft. Sie trägt ihn ins 200-jährige Bauernhaus, bettet ihn auf ein Tuch, füllt Wasser in ein Schälchen, in ein anderes Körner. Dann gibt sie der Taube homöopathische Globuli und flüstert ihr zu: «Ruh dich gut aus, meine Liebe. Bis morgen sehen wir dann, ob du zum Vogeldoktor musst.»

Das Telefon klingelt. Fast täglich ruft jemand an, der ein misshandeltes, verletztes oder vor dem Metzger gerettetes Tier abgeben will. Moni geht ran. Kommt zurück. «Jemand will ein Schaf bringen. Was sollen wir machen?» Auf dem Hof leben schon neun Schafe und acht Geissen, und die Gruppe harmoniert gut.

«Den Tieren zuliebe muss ich oft Nein sagen. Das tut weh. Doch wir stossen an Grenzen.» Es mangelt an Arbeitskraft. Gerne würde die 62-Jährige mehr junge Menschen anstellen. «Aber dafür reichen die Spendengelder nicht.» Der Hof verursache Unterhaltskosten von rund 12 000 Franken im Monat – da bleibe kaum etwas übrig für die nötigsten Reparaturen.

Ohne ehrenamtliche Helfer ginge gar nichts. Da ist zum Beispiel Claudia Engler, 38, aus Oeschgen AG, die dreimal in der Woche Einkäufe erledigt und Hand anlegt, wo es nötig ist – auf einer Farm mit 100 Tieren gibt es immer Arbeit. Da muss gemistet werden, geputzt, gehämmert, gekocht, gefüttert und gestriegelt. «Weil ich kein Geld zum Spenden habe, leiste ich körperlichen Einsatz», sagt Engler.

Ein Refugium – nicht nur für Tiere

Mit dabei ist auch die 17-jährige Dana Antoniol aus Künten AG. Sie macht ein Praktikum im Rahmen der Fachmaturitätsschule. Sie sei fasziniert vom «Tierlignadenhof»: «Hier ist es viel schöner als im Zoo.» Mit Ausnahme der Raben lebt kein Tier hinter Gittern. «Man merkt, dass es den Tieren gut geht», sagt Dana. «Wenn man ihnen in die Augen schaut, dann sieht man das Reine, das Ursprüngliche – das tut der Seele gut.»

Monika Spoerlé gibt nicht nur Tieren ein Heim, auch Menschen öffnet sie Tür und Tor: Auf dem Hof sind deshalb auch drei junge Menschen mit Behinderung angestellt. Der 18-jährige Stephan Majn (Name geändert) zum Beispiel hat das Asperger-Syndrom, eine leichte Form des Autismus. Der junge Mann konnte eine Anlehre als Tierpfleger absolvieren und arbeitet jetzt auf dem Hof.

«Am Anfang hat Michael mit niemandem geredet», erinnert sich Moni. Inmitten der Tierfamilie sei Michael dann aber aufgeblüht. Carischli, eine der 32 Katzen, ist eines seiner Lieblingstiere. «Weil sie Mäuse und Ratten fängt», erklärt der junge Mann. Auch die Raben mag er – ausser wenn sie Nägel und Schrauben stibitzen.

Ein Reh, das glaubt, es sei ein Hund

Im Haus herrscht ein leicht altmodischer Charme; es ist erstaunlich sauber, wenn man bedenkt, wie viele Tiere ständig ein- und ausgehen. Es riecht nicht mal besonders nach Tier. Dabei sind überall Katzen: auf und unter dem Kachelofen, auf Stühlen und Sesseln, bei den Fenstern, im Küchenschrank und natürlich auf Monis Schoss.

Drei, vier Hunde streichen ebenfalls um die Beine der Besucher. Zwei liegen im Nebenzimmer auf dem Bett – zusammen mit einem Reh. Es schaut neugierig, ohne jegliche Scheu. «Wieso auch?», fragt Moni rhetorisch. «Die Tiere finden hier Geborgenheit und fassen schnell Vertrauen.» Wie alle Wildtiere, die hier leben, ist auch Reh Sara ein Findelkind. Das Kitz war keine Woche alt und völlig erschöpft, als es gefunden wurde. Man brachte es zum Tierarzt und von dort in ein Tierheim, wo es aber nicht bleiben konnte. Das Jungtier wurde auf den «Tierlignadenhof» gebracht, wo es im Hunderudel aufwuchs.

Als Beat Aegerter, Beamter beim Tierschutz des Kantons Aargau, davon Wind bekam, war der Fall für ihn klar: Das Reh muss weg. Aegerter ist verantwortlich für Haus- und Wildtiere. Seit über 30 Jahren ist er Hundehalter und weiss: Ein Reh und Hunde, das geht nicht. Moni bezeichnet das als «Schubladendenken» und kämpft dafür, dass «die Tiere, die hier aufgezogen wurden, auch hier bleiben können».

Um zu tun, was getan werden musste, fuhr Aegerter also nach Kaisten. Er erinnert sich: «Ich kam auf den Hof, sah das Hunderudel und mittendrin das Reh.» So hatte er sich das nicht vorgestellt. Das Reh verhielt sich wie ein Hund. «Es ist gut im Hunderudel integriert, und wenn es könnte, dann würde es auch bellen.»

Alle Bewilligungen sind vorhanden

Dennoch darf gemäss Tierschutzgesetz kein einzelnes Reh gehalten werden. Aber im Rehgehege würde sich Sara nicht zurechtfinden, ist sogar Aegerter überzeugt. Das Reh hat den Umgang mit Artgenossen nie gelernt. Das Gesetz wäre zwar erfüllt, aber das Wohl des Tieres würde missachtet. «Darum», sagt Aegerter, «darf man als Tierschützer kein Paragraphenreiter sein.» Schliesslich habe das Tier ja Sozialkontakte – artübergreifende eben. Aber er betont, dass der «Tierlignadenhof» kein rechtsfreier Raum sei und dass Monika Spoerlé über alle erforderlichen Bewilligungen verfüge.

Dasselbe gilt für die Haltung der fünf Bewohner des oberen Stockwerks, auf dem es intensiv nach Meister Reineke riecht. Im Kleiderschrank, der ihm als Höhle dient, liegt ein etwas dick geratener Fuchs. Er blickt auf, wach und unerschrocken. Seine Kumpels sind nirgends zu sehen, wahrscheinlich halten sie sich im Aussengehege auf. Ein Förster brachte die fünf Waisen einst auf den «Tierlignadenhof». Sie sind zwar mit den Hunden und den anderen Tieren aufgewachsen, aber laut Tierschutzgesetz müssen sie in einem eigenen Ge-hege leben. Doch selbst für Aegerter steht der Gesetzestext nicht über allem. Denn der Tierschützer ist überzeugt: «Den Tieren dort geht es gut.»

Die Braut verschmähte das Säuli

Das sei alleine Monika Spoerlés Verdienst, sagt Aegerter. «Sie hat eine Fähigkeit mit Tieren zu kommunizieren das habe ich nicht oft erlebt.» Das haben auch andere Besucher auf dem Hof längst bemerkt. «Moni, wenn du mit den Tieren sprichst, könnte man meinen, sie verstehen dich», sagen sie jeweils. Moni kommentiert das ungerührt: «Natürlich verstehen mich die Tiere.»

Im Pool im Hof badet nun das Hausschwein Paula ein Hochzeitsgeschenk. «Die Braut war entsetzt», erinnert sich Moni. Mitten in der Nacht hätten Frischvermählte das Ferkel auf den «Tierlignadenhof» gebracht. Paula habe sich wie selbstverständlich aufs Bett gelegt, den Kopf auf dem Kissen, und sei eingeschlafen. «Wie wenn sie das schon immer so gemacht hätte», erzählt Moni, während sie das Schwein mit Sonnencreme einschmiert. «Schweinchen werden gerne verwöhnt», sagt Moni. «Wie wir Menschen.»

Übrigens: Die Taube war nicht verletzt. Sie erholte sich schnell, und Monika Spoerlé konnte sie bereits am nächsten Tag wieder freilassen.

TV-Star half, den Hof zu retten

Fernsehmoderator Kurt Aeschbacher ist mit dem Tierasyl in Kaisten in besonderer Weise verbunden: Vor Jahren wollte der Besitzer das Haus verkaufen. Die Stiftung hatte nicht das Geld dazu; Monika Spoerlé und ihre Tiere hätten den Hof verlassen müssen. Aeschbacher hörte von der Geschichte und schrieb dem Besitzer, er möge doch zugunsten des Tierheims entscheiden – was der dann auch tat: Er hat den Hof der Stiftung überschrieben. Im Mai nun hat Kurt Aeschbacher im Rahmen seiner Serie «Sommerjob» einen Tag lang auf dem «Tierlignadenhof» in Kaisten gearbeitet.

Was er dort erlebt hat, wird am 5. August 2010 um 22.20 Uhr auf SF1 zu sehen sein.