Schon beim ersten Ultraschall war klar, dass etwas nicht stimmt. Die Nackenfalte des Ungeborenen war zu dick, und die Ärztin schickte Natalie Wyss und ihren Partner Laurent Iseli sofort ins Kantonsspital Aarau. Bei jedem weiteren Ultraschall kamen neue Auffälligkeiten hinzu: Unterentwicklung, Herzfehler, Darmverschluss, Klumpfüsschen. «Jedes Mal sagten die Ärzte, dass unser Kleiner beim nächsten Ultraschall vielleicht nicht mehr da sein werde», erzählt Natalie Wyss.

Doch Loic hat sich ins Leben gekämpft. Am 6. August 2019 kam er zur Welt – acht Wochen zu früh und gerade einmal 1305 Gramm leicht. «Während andere Eltern lernten, ihr Neugeborenes zu wickeln, wurde uns gezeigt, wie man ein Baby reanimiert», erzählt Vater Laurent Iseli und wischt sich Tränen aus den Augen. Mittlerweile ist Loic dreieinhalb Jahre alt. Er leidet an einem komplexen Fehlbildungssyndrom. Eine exakte Diagnose haben die Eltern nie bekommen. «Somit können uns die Ärzte auch nicht sagen, welche Entwicklungen Loic machen und wie lange er bei uns sein wird», sagt Mutter Natalie Wyss.

Schweiz hinkt hinterher

Über 5000 Kinder in der Schweiz leben mit einer lebensverkürzenden Krankheit. Sie und ihre Familien brauchen Hilfe. Hilfe, um die Schmerzen ihrer Kinder zu lindern. Hilfe bei der täglichen Versorgung. Hilfe, um die damit verbundenen Kosten zu decken. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern gibt es in der Schweiz weniger Unterstützung für diese Kinder und ihre Familien. Das beginnt bereits bei der Palliative Care.

«Es ist extrem schwierig, den Menschen klarzumachen, dass Palliative Care für Erwachsene nicht automatisch die Kinder abdeckt», erklärt Kinderärztin Eva Bergsträsser. Sie hat vor 20 Jahren damit begonnen, die Palliative Care am Universitäts-Kinderspital Zürich aufzubauen. Gemeinsam mit ihrem Team versucht sie, die Lebensqualität jener Kinder zu verbessern, bei denen eine Heilung immer unwahrscheinlicher wird. «Im Vergleich zu Erwachsenen zieht sich die Palliative Care bei Kindern oft über viele Jahre hin», führt sie weiter aus.

Palliative Care wird an das Alter und die Entwicklungsstufe des Kindes angepasst, an die Krankheit und deren Verlauf. Zudem komme der Familie eine ganz besondere Bedeutung zu, sagt die Ärztin: «Unter anderem deshalb, weil in den allermeisten Fällen die Eltern für ihr Kind Entscheidungen treffen müssen und das Kind nicht losgelöst von seinem familiären Kontext gesehen werden kann.»

Warum hinkt ausgerechnet eines der reichsten Länder der Welt bei der Unterstützung der Schwächsten in der Gesellschaft hinterher? Bergsträsser hat eine Vermutung: «Ich denke, dass wir in der Schweiz einem Machbarkeitswahn verfallen sind. Der Tod ist noch immer ein Tabu. Entsprechend wird viel mehr in das Überleben investiert – die Lebensqualität droht dabei in Vergessenheit zu geraten.» Doch sie sieht noch einen zweiten Grund, weshalb Palliative Care – generell, aber vor allem bei Kindern – eher stiefmütterlich behandelt wird: «Palliative Care ist personal- und zeitintensiv und wird bisher von den Kostenträgern ungenügend vergütet. Es ist also insbesondere für kleinere Kliniken schlicht nicht lukrativ, diese Dienstleistung anzubieten.»

«Wir machen das Beste draus»: Laurent Iseli und Natalie Wyss mit ihren beiden Kindern Lucie und Loic

«Wir machen das Beste draus»: Laurent Iseli und Natalie Wyss mit ihren beiden Kindern Lucie und Loic

Quelle: Dres Hubacher

Wie wichtig die Unterstützung von Familien mit schwerkranken Kindern ist, zeigt jedoch bereits ein Blick auf Loics Wochenplan. Jeden Morgen um fünf Uhr bekommt er das erste Medikament, am Vormittag folgen vier weitere, am Mittag noch eines und am Abend weitere vier Präparate – insgesamt zehn Einheiten über den Tag verteilt. Die meisten davon gegen Epilepsie. Da Loic nicht schlucken kann, verabreichen ihm seine Eltern Nahrung mehrmals täglich über eine Magensonde. Zudem bekommt Loic Besuch von einer Pflegefachfrau, einer Assistenz, einer Logopädin sowie einer Audio- und Visiopädagogin. Die Eltern bringen Loic regelmässig zur Physiotherapie, zur Lymphdrainage, zum Babyfloating sowie in eine kleine Spielgruppe.

«Stich ins Herz»

«Manchmal bin ich dankbar, dass wir nicht von Anfang an wussten, was alles auf uns zukommen wird. Wir hätten es wohl nicht gepackt», sagt Mami Natalie. «Aber letztlich hat man keine Wahl. Wir machen das Beste daraus und hoffen, dass sich die Situation immerhin ein bisschen verbessert», sagt Papa Laurent. Er atmet tief ein und setzt dann nochmals an: «Aber mit der Hoffnung ist es so eine Sache …» Lange Zeit hielt er an der Hoffnung fest, dass Loic in einem gewissen Ausmass ein selbständiges Leben führen können wird. «Als ich verstand, dass er nie selbständig sein wird, war das für mich sehr schwierig.» Mutter Natalie ergänzt: «Andere Kinder in Loics Alter bekommen ihr erstes Velo. Ich kaufe für Loic immer noch Spielzeug für Neugeborene. Es gibt mir jedes Mal einen Stich ins Herz.»

Neben den emotionalen Herausforderungen ist das Paar oft mit medizinischen Notfällen konfrontiert. Immer wieder klingelt Loics Blutsättigungs- und Pulsmessgerät das Paar aus dem Schlaf. Kurz vor Weihnachten vor drei Jahren führte ein technisches Problem mit Loics Nasensonde dazu, dass er beinahe erstickt wäre und mit der Rega ins Spital geflogen werden musste. «Ich dachte wirklich, dass wir ihn verlieren», erinnert sich Mutter Natalie. Letzten Sommer hatte Loic so starke Bauchschmerzen, dass er mehrere Tage wie am Spiess schrie. «Es war furchtbar, das eigene Kind so leiden zu sehen», sagt Papa Laurent und fügt hinzu: «Loic ist ein wahrer Kämpfer. Trotzdem sind Natalie und ich uns einig: Wenn Loic gehen will, lassen wir ihn gehen.»

Wie viel der Alltag mit einem schwerkranken Kind Familien abverlangt, sieht auch Simone Keller in ihrem Berufsalltag regelmässig. Die Pflegefachfrau arbeitet seit bald 15 Jahren in der Palliative Care für Kinder und hat so auch Loic und seine Familie kennengelernt. Am Inselspital in Bern hat sie mitgeholfen, ein entsprechendes Team aufzubauen. «Wenn man diese Familien im Alltag begleitet, versteht man schnell, dass sie einen Ort brauchen, an dem sie sich geborgen, gleichzeitig aber auch medizinisch gut aufgehoben fühlen – etwas zwischen Spital und Betreuung zu Hause», sagt Keller.

Portrait Pflegefachfrau Simone Keller. «Diese Familien brauchen die Möglichkeit, ab und zu einmal durchzuatmen.»

«Diese Familien brauchen die Möglichkeit, ab und zu einmal durchzuatmen», sagt Simone Keller vom Allani Kinderhospiz.

Quelle: Dres Hubacher

Genau das könnte ein Kinderhospiz sein. Allein in Deutschland gibt es 20 davon, in ganz Europa über 130. Die Schweiz hat noch kein einziges. Ähnlich wie bei der Palliative Care ist auch hier die Finanzierung eine der grössten Hürden. Da Kinderhospize in der Schweizer Gesetzgebung nicht vorgesehen sind, bestehen auch keine Tarifstrukturen für sie. Die Abrechnungsmöglichkeiten für Dienstleistungen in einem Kinderhospiz sind zudem limitiert. Mangels Versicherungsgeldern und öffentlicher Beiträge müssen Aufbau und Betrieb darum weitgehend mit Spenden finanziert werden.

Trotzdem sind Simone Keller und ihr Team auf bestem Weg, genau das zu realisieren. Anfang nächsten Jahres soll das Allani Kinderhospiz in einem ehemaligen Bauernhof am Rand von Bern eröffnet werden. Allein der Umbau kostet knapp sechs Millionen Franken. Dieser ist mittlerweile praktisch finanziert. Das Fundraising für die zehn Millionen Franken, die für die ersten drei Betriebsjahre kalkuliert wurden, ist in vollem Gange. «Ich bin optimistisch, dass wir es schaffen werden, Anfang 2024 das erste Kinderhospiz der Schweiz zu eröffnen», gibt sich Keller zuversichtlich.

Die grösste Herausforderung auf dem Weg dahin sei, dass Kinder häufig – auch politisch – vergessen würden. Ähnlich wie Kinderärztin Eva Bergsträsser vom Kispi Zürich hat auch Simone Keller immer wieder die Erfahrung gemacht, dass man viel zu oft davon ausgeht, dass das, was für die Erwachsenen funktioniert, auch für Kinder stimmt. Auch deshalb würden viele Leute meinen, dass ein Kinderhospiz ein Ort zum Sterben ist. «Doch tatsächlich ist ein Kinderhospiz vielmehr ein Ort, um zu leben», sagt sie.

Entsprechend will man im Allani unter anderem ein Pflege-Kita-Angebot realisieren. Vier Betten sind zudem für Kurzzeit- oder Übergangspflege geplant – für Kinder also, die nicht mehr im Akutspital bleiben müssen, aber trotzdem zu instabil sind, um wieder nach Hause zu gehen. Sie und ihre Familien sollen im Berner Kinderhospiz ein schönes Zuhause auf Zeit finden. Selbstverständlich soll das Allani aber auch ein Ort sein, an dem Familien Abschied von ihrem Kind nehmen können.

Um die Bedürfnisse der Kinder und Familien besser kennenzulernen, hat das Kinderhospiz bereits vor der offiziellen Eröffnung sogenannte Lichtblick-Wochenenden für Familien organisiert. Auch Loic war mit Mama Natalie und Papa Laurent einmal dabei. «Die Zeit hat uns wirklich gutgetan», sagt Loics Mutter.

Wunsch nach einem zweiten Kind

Durch Kinderhospize könnten Familien wie die von Loic also künftig entlastet werden. Doch genau dieses Wort ist ein rotes Tuch für die Politik und die Versicherungen – denn sie wollen nicht für Entlastung bezahlen. Das löst bei Simone Keller Unverständnis aus. «Jeder, der Einblick in das Leben einer solchen Familie hat, merkt sofort, dass diese Familien oft an der Belastungsgrenze oder darüber hinaus sind. Es braucht Menschen, die sie unterstützen und ihnen die Möglichkeit geben, immerhin ab und zu einmal durchzuatmen.»

Loic ist vollständig auf Hilfe angewiesen, kann nicht selber sitzen, sich nicht selber drehen oder sprechen. So kann er sich auch nicht selber beschäftigen und allein spielen. Trotz allem sei Loic in seiner Welt zufrieden, sagen die Eltern. «Manchmal schenkt er uns sogar ein Lächeln. Das gibt uns Kraft. Denn das Wichtigste für uns ist, dass Loic keine Schmerzen hat», sagt die Mutter.

Trotz der enormen Belastung haben Loics Eltern sich ihren Wunsch nach einem zweiten Kind erfüllt. Ein schwieriger Schritt – vor allem für Mutter Natalie. Denn gerade sie machte sich lange Zeit grosse Vorwürfe: «Ich habe mich immer wieder gefragt, ob ich etwas falsch gemacht habe während der Schwangerschaft und es Loic meinetwegen so schlecht geht.» Obwohl die Ärzte mehrfach bestätigten, dass dies nicht der Fall sei, blieb das ungute Gefühl.

Doch nun hat Loic eine kleine Schwester. Lucie. Zwei Monate jung und kerngesund. Die Freude ist riesig, bringt aber auch viele Emotionen hoch. «Wir wussten immer, dass Loic besonders ist. Doch seit wir sehen, wie schnell sich Lucie entwickelt, wird es noch offensichtlicher», erklärt der Vater. «Lucie kam zur Welt und konnte schon trinken. Mit Loic trainieren wir das heute noch. Einerseits bin ich so dankbar, dass Lucie gesund ist, anderseits tut es weh, dass Loic dieses Glück nicht vergönnt ist», sagt Mutter Natalie. Es herrscht Stille. Die Eltern müssen tief durchatmen. Plötzlich stupst Loic einen kleinen Plüschball zu Boden, der auf dem Tischchen vor seinem Therapiestuhl liegt. Schwester Lucie lächelt.

Ein Kinderhospiz für die Schweiz

Ab dem kommenden Winter bietet das Kinderhospiz Allani in Bern kranken Kindern und ihren Familien tage- oder wochenweise ein Zuhause auf Zeit.

Zusätzlich zu den acht Pflegezimmern, drei davon Familienzimmer, gibt es vier separate Elternschlafzimmer. Neben dem Kernteam werden auch Freiwillige die Familien und die Geschwister der erkrankten Kinder unterstützen, etwa Ausflüge und Aktivitäten organisieren und Hausaufgabenbetreuung anbieten. Sie werden mit Hilfe der Stiftung Pro Pall ausgebildet.

Weitere Informationen unter allani.ch