Mädchen sind doof und Buben noch blöder!
Im Primarschulalter wollen die meisten Jungs nichts von Mädchen wissen – und umgekehrt. Kein Grund zur Sorge.
Veröffentlicht am 19. Dezember 2013 - 14:32 Uhr
Als Luca missmutig von der Schule nach Hause kam, dachte seine Mutter zuerst an eine schlechte Note. Als es aber aus dem Neunjährigen heraussprudelte: «Stell dir vor, ich musste heute neben dieser blöden Jessica sitzen», war alles klar. Seit einiger Zeit sind Mädchen für Luca nicht mehr existent. An seiner Zimmertür klebt sogar ein «Für Mädchen verboten!»-Schild, und er meidet die Töchter der Nachbarn wie der Teufel das Weihwasser.
Die meisten Eltern von Kindern zwischen acht und zehn Jahren stellen sich wie die Mutter von Luca die Frage, ob sie in der Geschlechtserziehung versagt haben.
Nein, haben sie nicht! Zu Beginn des Primarschulalters wächst die Distanz zwischen Buben und Mädchen. Wie sehr die Kinder dem anderen Geschlecht aus dem Weg gehen, ist individuell verschieden. Entscheidend sind der Entwicklungsstand und die jeweilige Kindergruppe. In diesem Alter organisieren sich Mädchen wie Buben in geschlechtsgetrennten Kreisen. Will dann der Anführer einer Gruppe nichts mit Mädchen zu tun haben, werden die anderen kaum Sympathie für sie bekunden.
Aber woher kommt die Ablehnung des anderen Geschlechts? Und vor allen Dingen: Was bringt sie? Die schlüssige Erklärung bietet die Entwicklungspsychologie: Im Primarschulalter brauchen Kinder Ordnungsprinzipien. Sie wollen wissen, was gut ist und was böse, und sie benötigen Klarheit über ihre eigene Rolle als Knabe beziehungsweise als Mädchen. Die Klarheit darüber, wer sie sind, gewinnen Kinder leichter, wenn sie sich vom anderen Geschlecht abgrenzen. Sie suchen sich in dieser Phase eher Spielkameraden ihresgleichen und bevorzugen geschlechtsspezifisches Spielzeug.
Die «Geschlechtertrennung» steigt bis zur Pubertät deutlich an. Das Geschlecht übernimmt in dieser Phase eine wichtige Orientierungsfunktion für die Kinder, die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht gibt ihnen Sicherheit und ist Teil ihrer Identitätsbildung.
Diese Orientierung am eigenen Geschlecht kann man als geschlechtsspezifische Sozialisation interpretieren. Freundschaft wird meist als gleichgeschlechtliche Beziehung verstanden. Viele Untersuchungen kamen zum Ergebnis, dass Kinder im Primarschulalter und bis zur Pubertät geschlechtshomogene Gruppen und Beziehungen bilden.
Insbesondere Buben riskieren Spott und Hohn, wenn sie mit einem Kind des anderen Geschlechts spielen oder sich mit ihm unterhalten. In der vierten Klasse erreicht die Trennung der Geschlechter meist ihren Höhepunkt.
Ein typisches Verhaltensmuster zeigt sich, wenn in der Schule zwei gleich grosse Gruppen gebildet werden sollen. In Kürze stellen sich Buben und Mädchen getrennt auf. Bleibt jemand übrig und muss zur gegengeschlechtlichen Gruppe, ist ihm Häme sicher. Die Kinder spüren einfach, dass sie verschiedene Interessen haben und sich unterschiedlich verhalten. Das sieht man auch auf dem Schulhof: Buben toben sich aus, Mädchen reden. Knaben fühlen sich in grossen Gruppen wohl, Mädchen in Grüppchen und Zweierbeziehungen. Buben wollen dominieren, Mädchen sehnen sich nach Freundschaften. Daher sind gemeinsame Aktivitäten eher selten.
Was fremd ist, wird vorsichtshalber erst einmal abgelehnt. Die Mädchen finden die Buben blöd, weil sie nur Fussball im Kopf haben, den Schulunterricht stören und Vereinbarungen nicht einhalten. Mädchen sind doof, weil sie zicken, immer tun, was die Lehrerin sagt, schnell beleidigt sind und alles besser wissen. Wer sich trotzdem für ein Mädchen interessiert, bekommt den geballten Gruppendruck und Spott zu spüren: «Neulich ging der Dimitri mit der Julia spazieren», erzählt Luca seiner Mutter, und seine Kumpels hätten gerufen: «Iiih, was für ein Liebespaar! Wann heiratet ihr denn?» Das war ihnen voll peinlich.
Spätestens mit zehn Jahren erwacht aber das Interesse am anderen Geschlecht – zumindest unterschwellig. Dabei ist Zärtlichkeit stärker tabuisiert als Schubsen und Anrempeln. Damit suchen vor allem Buben die Nähe der Mädchen. Nicht umsonst ist das Fangspiel «Die Buben die Mädchen und die Mädchen die Buben» – das einzige gemeinsame Spiel in dieser Zeit – so beliebt.
Doch bald melden sich erste Schwärmereien. In den Vorabendserien des Fernsehens bekommen die Kinder alles Wissenswerte übers Verliebtsein vorgespielt. Auch wenn die einen verunsichert werden und erst recht den Kontakt zur angestammten Gruppe suchen, träumen andere von der ersehnten Liebe.
Vor allem Mädchen schwärmen für Mitschüler quasi als Probelauf für die Pubertät. Die ersten Liebesbriefe machen die Runde: «Liebst du mich? Ja oder nein? Willst du mich heiraten? Ja oder nein? Bitte ankreuzen.» Allerdings findet ein solcher Liebesschwur im Geheimen statt, und wenn die Liebe nicht erwidert wird, schmerzt der Liebeskummer genauso wie bei den Erwachsenen. Die impulsive Antwort auf die Kränkung liegt auf der Hand: «Ich werde mich nie wieder für ein Mädchen/einen Buben interessieren. Und heiraten werde ich erst recht nicht!»
Bedeutet das für Eltern, dass sie einschreiten und dafür sorgen müssen, dass ihre Kinder so oft wie möglich Kontakt mit gegengeschlechtlichen Kindern haben? Nein! Zwar ist es immer die Aufgabe der Eltern, ihr Kind zu unterstützen und liebevoll zu begleiten. Aber: Kinder sollten nicht zu Kontakten gezwungen werden. Wenn Jungs im Primarschulalter nichts mit Mädchen zu tun haben wollen und umgekehrt, sollten Eltern das gelassen hinnehmen.
Die Abgrenzung nach Geschlechtern gehört in dieser Altersstufe dazu: «Buben sind blöd» und «Mädchen sind doof» – wer das hört, muss sich keine Sorgen machen. Je mehr Sicherheit die Buben in ihrer eigenen Gruppe erfahren, umso einfacher ist es für sie später, zu den Mädchen Kontakt zu finden. Eltern können also ruhig abwarten, bis die Abgrenzungstendenz während der Pubertät schwindet und ein neues Interesse am anderen Geschlecht entsteht.
Es ist also glücklicherweise nur eine Frage der Zeit, bis auch Luca den Aufkleber «Für Mädchen verboten!» wieder entfernt und in seine «stürmische» Phase der Pubertät eintaucht.