Bundesrat Didier Burkhalter macht, was er am liebsten tut: Er schweigt – und verhandelt hinter verschlossenen Türen. Nachdem SP und SVP die 11. AHV-Revision letzten Herbst versenkt hatten, erklärte der FDP-Magistrat 2011 zum Jahr des Nachdenkens. Das erste Ergebnis dieses Prozesses wollte er ursprünglich im April präsentieren. Es wird aber Sommer werden, bis die neuen Prognosen für die AHV bekanntwerden.

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Und sie sind Chefsache geworden. Nicht mehr das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV), sondern das Departement Burkhalter ist neu für die Überarbeitung zuständig. BSV-Vizedirektor Werner Gredig: «Es wird sicher etwas kommen, womit auch die Gewerkschaften einverstanden sein könnten.» Denn zwei der drei zentralen Faktoren, mit denen das BSV seine Szenarien berechnet hatte, müssen nach oben korrigiert werden: die Strukturwandels- und die Bevölkerungsentwicklungskomponenten.

Das klingt nach Fachchinesisch, beschreibt aber, was alle wissen: Die Produktivität ist in den letzten Jahren massiv gestiegen, mehr Frauen arbeiten länger, und die Zahl der Arbeitnehmer hat sich erhöht, weil die Wirtschaft immer mehr Ausländer ins Land holt. Die Folge: Die AHV nimmt deutlich mehr ein als prognostiziert.

BSV-Chefmathematiker Gredig rät deshalb zur Vorsicht: «Künftige AHV-Revisionen müssen so flexibel gestaltet sein, dass die AHV auf unterschiedliche Entwicklungen reagieren kann.» Im Moment gehe es aber um die Frage, wann die nächste AHV-Revision in Kraft treten muss, damit das Sozialwerk nicht in Schieflage gerät. Das dürfte nicht vor 2020 der Fall sein, erklärten BSV-Chef Yves Rossier und sein Chef, Bundesrat Burkhalter, bereits Ende 2010.

Planen mit dem Merz-Faktor

Die bisherigen AHV-Szenarien, auf die sich die Politik ständig beruft, waren etwa so treffsicher, als wäre alt Bundesrat Hans-Rudolf Merz am Rechner gesessen. Der hatte in seiner Amtszeit das Bundesbudget um insgesamt 22 Milliarden Franken schlechtgerechnet und damit seine Sparpolitik begründet. In bester Merz-Manier rechnen auch BSV, Arbeitgeberverbände und deren Think-Tanks die AHV in die Krise. So wollen sie beweisen, dass das grösste Schweizer Sozialwerk bald zusammenbricht.

Ohne die neuen Perspektivrechnungen abzuwarten, will deshalb die Ständeratskommission für soziale Sicherheit und Gesundheit das Rentenalter für Frauen vorsorglich auf 65 Jahre erhöhen. Zeitgleich sollen die Renten nur noch verzögert der Teuerung angepasst werden, sobald der AHV-Ausgleichsfonds weniger als 70 Prozent einer Jahresausgabe enthält. Wie überraschend gut die AHV heute dasteht, kümmert die Kommission offenbar wenig. Dabei mussten die BSV-Mathematiker schon 2009 Rechenfehler eingestehen. So stellten sie fest, dass die Summe der effektiv gezahlten Löhne viel stärker steigt als der Lohnindex, auf den sie sich abstützten: Statt 0,1 bis 0,3 Prozent betrug das Lohnwachstum in den letzten 20 Jahren im Schnitt effektiv 0,7 Prozent. Pro Arbeitnehmer stiegen die AHV-Beiträge nicht um 0,62 Prozent pro Jahr, sondern um 1,4 Prozent.

Auch die Zuwanderung wurde deutlich unterschätzt. 2010 lebten in der Schweiz nicht 7,3 Millionen Menschen, wie vor zehn Jahren vorhergesagt, sondern 7,9 Millionen. Der Hauptgrund: Jährlich wanderten netto 59'400 oft hochqualifizierte Arbeitnehmer ein; das BSV hat mit halb so vielen gerechnet. Und solange die Schweizer Wirtschaft rund läuft und das Lohngefälle zum Ausland bleibt, dürfte die starke Zuwanderung anhalten, sagen Ökonomen. Das tut der AHV gut: Sie nimmt viel mehr ein als erwartet.

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Quelle: Getty Images
«Genaue Prognosen sind nicht möglich»

«Mit falschen Szenarien wird falsche Politik gemacht», kritisiert deshalb Gewerkschaftsökonom Daniel Lampart. Und verweist auf die Fehlprognosen des Bundesrats: 2000 warnte er, das Umlageergebnis der AHV (Einnahmen ohne Kapitalerträge minus Ausgaben) werde schon ab 2001 negativ ausfallen und bis 2009 auf minus 4,5 Milliarden Franken im Jahr absacken. 2005 revidierte der Bundesrat seine Schätzungen und verlegte den Sturz in die roten Zahlen auf 2009.

Beide Male lag der Bundesrat falsch. In den letzten zehn Jahren verbesserte sich das Umlageergebnis kontinuierlich. 2009 belief sich der Überschuss auf über eine Milliarde Franken, 2010 auf 644 Millionen (siehe Grafik). Und das AHV-Vermögen ist in dieser Zeit nicht etwa geschrumpft, sondern hat sich auf 44,5 Milliarden Franken verdoppelt. Denn die AHV macht derzeit satte Gewinne: Dank starken Kapitalerträgen schloss das AHV-Betriebsergebnis 2009 mit einem Gewinn von 3,9 Milliarden Franken ab. Letztes Jahr betrug das Plus 1,9 Milliarden.

In den Unterlagen zur SP-Volksinitiative «für ein flexibles AHV-Alter» hatte das BSV vor drei Jahren die Frage gleich selbst beantwortet, warum «die Prognosen des Bundesrats zur Zukunft der AHV immer so falsch» sind: «Genaue Prognosen (…) sind nicht möglich. Insbesondere die wirtschaftliche Entwicklung, (…), lässt sich nicht prognostizieren, nicht einmal auf wenige Jahre hinaus.»

Volkswirtschaftsprofessorin Monika Bütler schrieb kürzlich in einer Kolumne: «Prognosen in Wirtschafts- und Sozialpolitik beziehen sich auf Ereignisse, die wir noch ändern können. Es sind daher lediglich Projektionen – Szenarien, die erst unter bestimmten Bedingungen eintreffen.» Solche «Was geschieht, wenn wir nichts ändern?»-Projektionen hätten den Sinn, die politische Trägheit zu überwinden. «Die Nützlichkeit der Projektion liegt darin, dass sie paradoxerweise hilft, ihr eigenes Eintreten zu verhindern», so Bütler. So gesehen seien die Fehlprognosen des BSV ein Segen. Sie verhelfen der richtigen Politik zum Durchbruch, sagt die in St. Gallen lehrende Professorin.

Die Engpässe rücken in die Ferne

Gewerkschaftsökonom Lampart sieht das etwas anders. Die AHV habe sich so viel besser entwickelt, dass sich im Moment keine Abbaumassnahmen rechtfertigen liessen. «Wenn die gesetzlichen AHV-Leistungen unverändert bleiben, bräuchte die AHV vor 2025 voraussichtlich keine Zusatzfinanzierung», rechnet er vor. Entwickeln sich Löhne und Beschäftigung so wie in den vergangenen 20 Jahren, genügten 2030 bereits 1,6 Lohnprozent höhere Beiträge, um die AHV im Gleichgewicht zu halten. Steigen die AHV-Einnahmen gar wie im Mittel der letzten 50 Jahre, müsste man die Beiträge kaum erhöhen.

Bundesrat Burkhalter, der weiter hinter verschlossenen Türen verhandelt, ist zwar etwas weniger optimistisch. Aber auch er sagt, dass erst ab 2021 mit ersten Engpässen gerechnet werden müsse. Damit ist klar: Der Kollaps der AHV kann wieder einmal vertagt werden.