«Paolo, Paolo!», ruft ein kleiner Junge im Neymar-Trikot. «Der da steht immer im Goal, aber du hast doch gesagt, wir spielen ohne Goalie.» Gianpaolo Vitale, von allen nur Paolo genannt, schüttelt seine schwarzen Locken und schaut den Buben ernst an. «Wieso macht er das wohl?» Der Bub blickt ihn fragend an.

«Aus Liebe. Er liebt es, im Tor zu stehen.» Nun guckt ihn der kleine Junge völlig verdutzt an. «Wenn man etwas aus Liebe macht, dann ist das immer gut und nichts Böses. Verstehst du?», fragt Vitale und schickt ihn zurück aufs Feld. Love rules, die Liebe regiert, das ist sein Lebensmotto. Auch im Fussball.

Paolo Vitale steht am Rand des Fussballplatzes in Zürich Seebach. Training der F- und E-Junioren, sechs- bis achtjährige Buben und Mädchen. Auf der einen Seite grasen Kühe, auf der anderen ist das Feld von Neubauten umrandet. Mütter mit und ohne Kopftuch und Väter mit und ohne Bart feuern ihre Jüngsten an. Mindestens zehn verschiedene Sprachen sind nebst Schweizerdeutsch zu hören. Mehrere Dutzend Kinder bespielen die aufgestellten Minigoals.

Seebach hat mit knapp 40 Prozent einen der höchsten Ausländeranteile der Stadt Zürich. Das Quartier gilt als sozialer Brennpunkt. Jede zwölfte Person bezieht Sozialhilfe, jede sechste ist unter 15 Jahre alt.

«Love rules»

Beim SV Seebach darf jedes Kind mitspielen, egal welcher Kultur und Nationalität es angehört und wie gut oder schlecht es spielt. Der Verein kennt keine Wartelisten wie die meisten anderen Stadtzürcher Clubs. «Kinder sollen einfach spielen dürfen», so Paolo Vitale. Er nehme alle, auch die mit ADHS, Autismus oder sonstigen Entwicklungsstörungen, Kinder, welche die anderen Clubs aussortieren.

Vitale ist Trainer, Lebenscoach, Sozialarbeiter und Integrations-Experte in Personalunion. Das alles neben seinem 100-Prozent-Job als Sachbearbeiter.

Wer den 120-Kilo-Mann verstehen will, muss seinen «Love rules»-Ansatz begreifen. Es geht nicht darum, wer alles richtig macht, wer der oder die Beste ist oder ums reine Gewinnen. «Es geht darum, Liebe zu verbreiten», sagt er bestimmt. Nur durch das Weitergeben von Liebe würden die Kinder lernen, Konflikte zu lösen, fair zu sein und als Team zu fungieren. Auch im späteren Leben.

Seit vier Jahren ist der 47-Jährige Präsident des SV Seebach, verbunden mit dem Verein ist er aber seit über 25 Jahren. Damals zog er ins Quartier und begann hier als Juniorentrainer mit der Mannschaft seines Sohnes. Er kam nach Seebach, weil es dort günstige Wohnungen für seine wachsende Familie gab.

Ein Teambild vom Jahre 2008 mit Paolo Vitale, hintere Reihe links, und neben ihm Gloria Antonio sowie Luan Läubli, vordere Reihe zweiter von links, im Klubhaus des SV Seebach beim Sportplatz Buchwiesen in Seebach, in Zuerich, am Donnerstag, 22. August 2022. (Foto: Dominic Steinmann)

Paolo Vitale (hinten links) ist bereits seit über 25 Jahren mit dem SV Seebach verbunden.

Quelle: Dominic Steinmann

Heute sind seine drei Kinder längst ausgezogen, Vitale lebt aber mit seiner Frau immer noch hier, «meine Heimat». Die Eltern des Stadtzürchers stammen aus Sizilien und Kalabrien, kennengelernt haben sie sich beim Industriegiganten Sulzer. Aufgewachsen ist Vitale im Kreis 4, dem ehemaligen Rotlichtviertel und Arbeiterquartier.

Nur die Liebe zählt, das ist keine Esoterik, kein Witz. Paolo Vitale meint das ganz ernst. Und er hat damit Erfolg. Mehrere junge Männer, die er einst als Juniorentrainer coachte, sind heute immer noch oder wieder im Club und übernehmen verschiedene Aufgaben, «um Paolo etwas zurückzugeben». Wäre er nicht gewesen, wäre manch einer von ihnen im Gefängnis oder auf der Strasse gelandet. «Paolo hat immer an uns geglaubt», sagen sie unisono.

Vier Beispiele:

Luan Läubli, 23, Seebacher, Flügelspieler in der 1. Mannschaft, seit zwei Jahren Juniorenobmann

Luan Laeubli, posiert fuer ein Portrait im Klubhaus des SV Seebach beim Sportplatz Buchwiesen in Seebach, in Zuerich, am Donnerstag, 22. August 2022. (Foto: Dominic Steinmann)
Quelle: Dominic Steinmann

Er arbeitet als Hauswart und rappt erfolgreich über sein Leben. Seine Songtexte seien in letzter Zeit freundlicher geworden, sagt er und fügt an: «Ich war genau so ein Problemkind aus Seebach, wie man sich das vorstellt.» Er hatte eine schwierige Kindheit, wuchs ohne Vater auf, seine Mutter bekam ihn mit 17 und war überfordert. «Für mich ist sie aber die beste und stärkste Mutter der Welt.»

Er sei depressiv gewesen und voller Aggressionen, auch aufgrund eines frühen Todesfalls in der Familie. Mit zehn flog er aus der Regelschule, kam in die Kinderpsychiatrie, dann in die Sonderschule. In der zweiten Sek habe er den Rank gefunden und konnte in die Regelschule zurück. «Dank Paolo», sagt er. «Die ganze Welt war gegen mich, nur er nicht.»

Paolo Vitale sei sein Ersatzvater, kam an die Elternabende und war immer da, wenn er ihn brauchte. Er sei auch streng gewesen und habe viel geschimpft. Aber: «Ohne ihn wäre ich nicht, wo ich jetzt bin.» Wenn Paolo ihm etwas gesagt habe, dann sei das «in seine Birä reingegangen». Sonst habe er niemandem getraut. «Er war der Einzige, der Potenzial in mir sah.» Paolo Vitale ist gerührt, wischt sich eine Träne aus dem Gesicht.

Läubli sagt, als Paolo ihn vor zwei Jahren gefragt habe, ob er Juniorenobmann werden wolle, sei das eine «grosse Ehre» für ihn gewesen. Er behandelt heute seine jungen Spieler so, wie er das von Paolo gelernt habe. Er sei nicht nur der Trainer, sondern ein Freund, auch neben dem Feld für die Kinder da. So wurde er schon von der Polizei als Vertrauensperson gerufen, als ein paar Spieler seiner Mannschaft wegen einiger Vorfälle auf den Posten mussten.

Drago Jelisavac, 29, Seebacher aus Bosnien, Innenverteidiger in der 1. Mannschaft, seit 21 Jahren Clubmitglied

Drago Jelisavac, posiert fuer ein Portrait im Klubhaus des SV Seebach beim Sportplatz Buchwiesen in Seebach, in Zuerich, am Donnerstag, 22. August 2022. (Foto: Dominic Steinmann)
Quelle: Dominic Steinmann

Er hat über 150 Spiele als Aktiver absolviert und arbeitet heute als Autospengler, früher war er Türsteher. «Paolo sorgt immer für einen, egal was ist. Er ist wie ein zweiter Vater für mich. Ich wollte seinetwegen nie weg vom SV Seebach.» – Vitale über ihn: «Drago war ein harter Junge. Seit er mit seiner Freundin zusammen ist, hat er sich geändert. Zum Guten. Ich vertraue ihm.»

Rinor Kelmendi, 26, Seebacher aus Kosovo, Mittelfeldspieler in der 1. Mannschaft, vor 19 Jahren im Club begonnen, seit einem Jahr Sportchef

Rinor Kelmedi, posiert fuer ein Portrait im Klubhaus des SV Seebach beim Sportplatz Buchwiesen in Seebach, in Zuerich, am Donnerstag, 22. August 2022. (Foto: Dominic Steinmann)
Quelle: Dominic Steinmann

Er studiert Betriebswirtschaft an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften ZHAW. Als Junior wechselte er zu anderen Vereinen und kam vor drei Jahren zurück zum SV Seebach. «Das war das Beste, das mir je passiert ist», sagt er voller Überzeugung.

Seebach sei definitiv Heimat. Und das liege an Paolo. «Er ist mir eine Riesenstütze, ihm ist der Mensch an sich wichtig, diese Wertschätzung ist einzigartig. Ich verdanke ihm viel.» Die Botschaft, «alles mit Liebe zu machen», sei ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Auch seine eigene Philosophie als Sportchef sei, dass jeder dabei sein könne, der sich engagiere. Auch diejenigen, die objektiv nicht die besten Kicker seien. Der Aufstieg in die dritte Liga sei aber dennoch ein Ziel.

Gloria Antonio, 22, Seebacher aus Angola. Er hat mit sieben Jahren beim SV Seebach begonnen, spielt heute als Stürmer in der 1. Mannschaft und ist zudem Juniorentrainer

Gloria Antonio, posiert fuer ein Portrait im Klubhaus des SV Seebach beim Sportplatz Buchwiesen in Seebach, in Zuerich, am Donnerstag, 22. August 2022. (Foto: Dominic Steinmann)
Quelle: Dominic Steinmann

Arbeitet als Versicherungsvermittler und macht zusätzlich ein Studium in Online-Marketing. Gloria Antonio sagt: «Meine ganze Familie liebt Paolo. Vom Vater bis zum jüngsten Bruder.» Egal ob Geldmangel oder Schulprobleme, Paolo habe immer geholfen.

Er selber sei sehr ehrgeizig und könne schlecht verlieren. Paolo habe ihm gezeigt, dass es viel mehr gebe als nur Gewinnen. Seine Mutter habe ihm manchmal gedroht, wenn er Blödsinn gemacht habe oder nicht zuhören wollte, sie rufe Paolo. «Das war die schlimmste Drohung», sagt er, lacht und zupft an seiner dunklen Wollmütze. Antonio wechselte als Junior zu bekannteren Clubs, kehrte aber vor einem Jahr zum SV Seebach zurück. «Hier bin ich verwurzelt.» Paolo Vitale sagt, kaum einer habe früher gedacht, dass es Antonio schaffen werde. Nun sei er ein Vorbild für andere und unterstütze seine Brüder und Eltern. «Ich bin stolz auf ihn.»

Menschen wie diese vier jungen Männer gibt es einige im Club. Alban Sejdini, Seebacher aus Mazedonien und Trainer der 1. Mannschaft sowie gemeinsam mit Luan Läubli Juniorenobmann, bringt es auf den Punkt, wie der Verein funktioniert: Paolo sei der grosse Bruder, Rinor und er die mittleren Brüder und Luan der kleine Bruder. Eine Familie halt. Sejdinis Frau arbeitet als Trainerin im Club, alle drei Kinder spielen auch im Verein. Die Jüngste, Flaka, 6 Jahre alt, sagt: «Paolo ist der Beste, weil er immer alle Goals aufstellt.» Später wolle sie Fussballtrainerin werden, wie ihre Mutter – und Paolo.

Von links: Die Trainer Albane Sejdini, Luan Laeubli, Paolo Vitale mit Kinder kurz nach dem Training auf dem Sportplatz Buchwiesen in Seebach, in Zuerich, am Donnerstag, 22. August 2022. (Foto: Dominic Steinmann)

Die 6-jährige Flaka (vorne) und einige ihrer Teamkollegen mit Flakas Mutter und Trainerin Albane Sejdini (ganz links), sowie ihren Trainern Luan Läubli und Paolo Vitale auf dem Sportplatz Buchwiesen in Seebach.

Quelle: Dominic Steinmann

Ende Saison steht das letzte Juniorenturnier in Seebach an. Kinder der Jahrgänge 2015 bis 2017 treten gegeneinander an, fast 300 Spieler und Spielerinnen. Ein Gewusel und Stimmendurcheinander. Am Schluss wirds still, Rangverkündigung. Ein grosser silbriger Pokal wartet auf die Siegermannschaft. Nur, die wirds nicht geben.

Paolo Vitale ist voll in seinem Element, er ruft: «Kinder, wer war die beste Mannschaft?» Grosses Kreischen. Vitale kratzt sich an der Stirn. Er habe seinen Kopf gefragt, wer am besten gespielt habe. Alle seien so gut gewesen, der habe alle Bälle gehalten, die habe super verteidigt, der sei fair gewesen. Sein Herz habe ihm dann die Lösung gegeben: Alle haben gewonnen, alle haben den Pokal verdient. Eine Mannschaft nach der anderen darf den Pokal hochstemmen, Jubel.

Zahlreiche Eltern und Trainer bedanken sich bei Paolo Vitale. Für den tollen Fussballtag und die Lektion Liebe, die er den Kindern gegeben hat. Und ihnen.

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Quelle: Beobachter
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