Meine Mutter hat mich mit Liebe, Zärtlichkeit und ihren vielen Geschichten erzogen, die mir Mut gemacht haben, meinen eigenen Weg zu gehen. Seit 30 Jahren schon erziehst aber auch du mich, liebe Schweiz.

Ich bin in einer Gemeinde aufgewachsen, in der man sich beim Spaziergang am Sonntag noch gegrüsst hat. Das lehrte mich, dass ich in einer Gesellschaft lebe, in der wir uns schätzen und mit Achtung begegnen. Die Wege, die ich bei dir, liebe Schweiz, nahm, waren oft steil und steinig – wie deine wunderschönen Alpen.

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Nicht immer habe ich verstanden, in welche Richtung du mich schubst und welche Umwege ich nehmen sollte, um hierhin zu kommen, wo ich jetzt bin. Aber auch wenn ich deine Gipfel nicht erklommen habe, weiss ich den Ausblick von hier aus zu schätzen. Ich werde mich weiter die Berge hocharbeiten, bis ich dort angekommen bin, wo ich irgendwann sein möchte.

In deinen malerischen Flüssen und Seen von Basel über Bern und Zürich lernte ich schwimmen, mich gegen die Strömung zu wehren und mich auch mal von ihr mitreissen zu lassen. Nicht nur im Wasser, auch im Leben hast du mich gelehrt, dass es beides braucht.

Du hast mich den Wert der Hingabe gelehrt. Zwischen deinen Bäumen haben wir von Frühling bis Herbst die Früchte der Arbeit von so vielen Menschen dieses Landes gefunden, die deine Erde mit Liebe bepflanzen – so, dass wir gestern, heute und morgen Schatten finden, wo wir ihn brauchen. Als Kinder haben wir dort die Freiheit gesucht, für die wir so weit von unseren Wurzeln wegreisen mussten.

Viele Begegnungen waren inspirierend. Oft hörte ich Geschichten aus den Tagen, als die Alten von heute die Kinder von damals waren, voller Weisheiten; über das, was Spuren hinterlassen hat und wir heute zu selten als Tradition ehren. Andere Treffen waren fördernd und auch fordernd, haben uns gezwungen, auch bei Wind, Sturm und Regen zu wachsen und zu gedeihen.

Ich wurde gross mit den Träumen der Menschen, die in dieses Land gekommen sind, die allen Zweifeln getrotzt und in ihren kleinen Koffern so viel Güte, Dankbarkeit und Hoffnung mitgebracht haben. Im Kosovo sagte man: «Was einen die Mutter nicht lehrt, lehrt die Schwiegermutter.» Das bezog sich auf die Tradition, dass Frauen nach der Heirat die Familie ihres Mannes annahmen und Teil von ihr wurden. Die Schwiegermutter übernahm – wie zuvor schon ihre Mutter – die Rolle der Lehrenden. Eine Rolle, die auch du, liebe Schweiz, in meinem Leben übernommen hast. Bei mir und den vielen Menschen, die hier ein neues Zuhause gefunden haben. Danke dafür.

Zur Person
Shqipe Sylejmani