Der Bahnhof Stettbach ist eine Betonoase. Oben rauscht der Verkehr, unten plätschert der Sagentobelbach. Dieser Bach markiert die Grenze zwischen zwei politischen Welten. Hier das rot-grüne Zürich, wo der Wähleranteil der SVP auf elf Prozent geschrumpft ist. Da Dübendorf, mit rund 30'000 Einwohnern die viertgrösste Stadt des Kantons Zürich, eine SVP-Hochburg. Seit einem Vierteljahrhundert ist kein einziger Vertreter der SP oder der Grünen in der Stadtregierung vertreten.  

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Dübendorf steht damit völlig quer zum Trend in den Agglomerationsstädten. «In den letzten Jahren sind diese mehrheitlich nach links gerückt oder zumindest grüner geworden. Die SVP hat in den Regierungen und Parlamenten meist Sitze verloren», sagt der Politologe Lukas Golder vom Berner Politforschungsinstitut Gfs. Im nahen Uster, das rund 35'000 Einwohner zählt und jahrzehntelang bürgerlich geprägt war, eroberten SP und Grüne vor vier Jahren zum ersten Mal die Mehrheit in Stadtrat und Parlament. In anderen Städten war der Trend ähnlich.

Anders in Dübendorf. Hier erreichte die lokale SVP zuletzt einen Wähleranteil von 30 Prozent, eroberte das Stadtpräsidium und wurde zu einem Kraftzentrum der Kantonalpartei. Mit Orlando Wyss und Patrick Walder gehörten zwischenzeitlich zwei Dübendorfer der Parteileitung der SVP Kanton Zürich an. Und als die SVP Schweiz zum Angriff auf die «links-grünen Städte» blies und eine «Neuausschreibung» der Hauptstädte der Kantone forderte, hatte Nationalrat Thomas Matter auch schon eine Idee, wie die neue Hauptstadt des Kantons Zürich heissen soll: Dübendorf natürlich!

Mit Start-ups und Hochhäusern zu «Dübai»

Die Stadt an der Glatt, deren Wappen ein Einhorn ziert, ist so etwas wie die letzte rechte Bastion unter den Agglomerationsstädten. Warum? Und bleibt sie es, wenn am 27. März gewählt wird?

Dübendorf war mal die Stadt der Fliegerei. Der Militärflugplatz prägte das Ortsbild. Mit den Jahren hat sich die Luftwaffe weitgehend zurückgezogen, sie ist längst nicht mehr identitätsstiftend. Auf dem Flugplatzareal sind ein Innovationspark, ein Campus für Start-ups und Hochschulen geplant.

Anderswo hat die Stadt ganz unterschiedliche Gesichter. Das Zentrum erinnert an dörfliches Leben, die Beizen heissen «Hecht» und «Bahnhöfli». Die Häuser sind niedrig, die Wege kurz. Und das reformierte Kirchgemeindehaus, der wohl repräsentativste Bau im Stadtkern, ist etwa so glamourös, wie es reformierte Kirchgemeindehäuser aus den Fünfzigerjahren eben sind.

Doch am Stadtrand, vor allem gegen Zürich hin, wird in die Höhe gebaut. Der Jabee-Tower ist mit 100 Metern aktuell das höchste Wohngebäude der Schweiz. Er steht im Hochbord-Quartier beim Bahnhof Stettbach. In einer Umgebung, die der Stadt aufgrund der Skyline den Übernamen «Dübai» eingebracht hat.

Der Jabee-Tower in Dübendorf

Gegen Zürich hin wächst Dübendorf: der Jabee-Tower, mit 100 Metern höchstes Wohnhaus der Schweiz. 

Quelle: Roger Hofstetter

«Die Bewohner der anderen Ortsteile haben oft nur wenig Bezug zu diesen Neubauquartieren. Und für manche ist es auch beängstigend, wenn ihre Stadt derart sichtbar wächst», sagt Leandra Columberg, in Dübendorf aufgewachsene SP-Kantonsrätin, die nun auch für den Gemeinderat kandidiert.

Vielleicht sind es solche Ängste, die dem Ort sein politisches Gesicht geben. Denn immer dann, wenn Urbanisierung für die Einheimischen vor allem mit Ängsten verbunden sei – vor Betonwüsten, Dichtestress oder hohem Ausländeranteil (in Dübendorf über 30 Prozent) –, würden eher die Rechten profitieren, sagt Politologe Lukas Golder. «Weil das Aspekte von Urbanisierung sind, die andere Reflexe nach sich ziehen, als es Kulturangebote, Velowege oder hippe Cafés tun.»

Neues Lebensgefühl 

Abseits der urbanen Ballungszentren sei in Neubaugebieten schon länger ein neues Lebensgefühl entstanden. «Denn auch in kleineren Gemeinden gibt es nun Genossenschaften, Betreuungsangebote, ausgebaute Velowege. Die Leute, die diese Angebote in Anspruch nehmen, wählen tendenziell eher SP, Grüne, Grünliberale.»

Gleichzeitig verlieren die althergebrachten Strukturen an Einfluss. Vielen kleinen Läden fehlt die Kundschaft, den Vereinen der Nachwuchs. Die früher mächtigen – und in der Regel bürgerlichen – Akteure aus Lokalpolitik, Gewerbe und Vereinsleben befänden sich deshalb tendenziell in einem Rückzugsgefecht, so Lukas Golder.

Die Pandemie habe diesen Trend verstärkt. In der Homeoffice-Zeit hätten viele Leute neue Freiräume entdeckt und sie auch gern angenommen.

Urbanisierung, Digitalisierung, Pandemie, grüne Welle: Das sind aktuell die grossen Linien der Politik, die laut dem Politologen auch das Leben ausserhalb der Grossstädte zunehmend prägen und lokalpolitische Aspekte in den Hintergrund drängen. Und doch: «Nach wie vor kann es in einer Stadt oder Gemeinde lokale Charakteristika oder Besonderheiten geben, die sich stärker auf die politischen Verhältnisse vor Ort auswirken als die übergeordneten sozialen und politischen Trends.»

Die Wiege der Grünliberalen

Welche Gefühle die Stadtwerdung auslöst, bestimmen auch die politischen Verantwortlichen. Im benachbarten Uster etwa hat der Stadtrat vor Jahren ein Projekt ins Leben gerufen, mit dem die Stadt der Zukunft geplant wird. In Workshops diskutieren Vertreter der Parteien und der Zivilgesellschaft überwiegend lustvoll über ihre Vorstellungen von Urbanität: über Grünflächen, Flaniermeilen, den Verkehr. In Dübendorf fehlt ein solches Projekt. «Die Classe politique war hier immer sehr dörflich orientiert und wollte von Urbanisierung möglichst wenig wissen», sagt der ehemalige Dübendorfer SP-Gemeinderat Hans Baumann.

Zu dieser Classe politique gehören in Dübendorf seit 2004 auch die Grünliberalen. Ihre Rolle ist eine weitere Besonderheit des Orts. Der Dübendorfer Martin Bäumle ist Gründungspräsident der Partei – und seit 1998 Mitglied des Stadtrats. Als Finanzvorstand verantworte er einen «rigiden Sparkurs», zu dessen Pfeilern ein «absurd tiefer Steuerfuss» gehöre, sagt David Siems, der Präsident der Dübendorfer Grünen.

Tatsächlich ist der Steuerfuss mit 99 Prozent deutlich tiefer als in anderen Städten der Region wie Uster (112 Prozent), Dietikon (123), Wetzikon oder Zürich (beide 119). Und tatsächlich war es auch die Dübendorfer GLP, die die Initiative für eine Schuldenbremse mitlanciert hat. Darum kommt Siems zum Schluss: «Die Stadt Dübendorf ist nicht nur die Wiege der GLP-Bewegung, sie ist auch die Heimat einer der rechtesten GLP-Sektionen überhaupt.» Dabei, so Siems, wären Investitionen in eine urbane Infrastruktur dringend nötig.

«Der tiefe Steuerfuss bürgt für einen sorgsamen Umgang mit den Finanzen und schiebt unnötigen staatlichen Ausgaben den Riegel.»

Patrick Walder, SVP-Gemeinderat

SVP-Gemeinderat Patrick Walder, der die Finanzpolitik mit seiner Partei mitverantwortet, hält diese Kritik für verfehlt. Im tiefen Steuerfuss sieht er eine Art Schutzwall gegen schädliche Einflüsse aus Zürich und einen Garanten für die politische Identität Dübendorfs. «Der tiefe Steuerfuss bürgt für einen sorgsamen Umgang mit den Finanzen und schiebt unnötigen staatlichen Ausgaben den Riegel.»

Ein Ausbau städtischer Angebote sei in Dübendorf unnötig. Es gebe schon heute schier «unbegrenzte Möglichkeiten in allen Lebensbereichen». Nur würden viele dieser Leistungen nicht vom Staat erbracht, sondern von den Bürgern und den Vereinen. Das entspreche der Haltung der Dübendorfer, wie sich in den letzten Jahren an Wahlen und Abstimmungen gezeigt habe, so Walder.

«Für politische Veränderung in Dübendorf müssen wir die Jungen besser abholen.»

Leandra Columberg, SP-Kantonsrätin

Leandra Columberg, SP-Kantonsrätin, in der Siedlung Kraftwerk1.

Quelle: Roger Hofstetter

Fraglich ist allerdings, ob das auch die Meinung in den wachsenden neuen Quartieren am Stadtrand ist. Im Innenhof der Siedlung Kraftwerk1 stehen Lastenvelos, bei einem bepflanzten Palett hält der «Öki-Bus», an einer Fassade hängt eine «Strike for Future»-Fahne. Wer hier ist, kann sich kaum vorstellen, dass Dübendorf eine rechte Vorzeigestadt sein soll. 125 genossenschaftliche Mietwohnungen gibt es hier an der Grenze zu Wallisellen, die meisten hier wählen links.

Einer von ihnen ist Stadtratskandidat Ivo Hasler, der für die SP endlich den ersehnten Sitz in der Exekutive holen soll. Eine andere ist Leandra Columberg, die hier in einer WG wohnt und für die SP 2019 mit einem dezidiert linken und feministischen Programm zur jüngsten Zürcher Kantonsrätin aller Zeiten gewählt wurde. Columberg sagt, dass einige ihrer jüngeren Nachbarn in der Genossenschaft bislang vor allem Richtung Stadt Zürich orientiert seien und wenig Bezug zur Lokalpolitik hätten. «Wir Linken müssen sie besser abholen, dann ist das Potenzial für eine politische Veränderung in Dübendorf da.»

Der Grüne David Siems glaubt, dass auch aus den neuen, eher teuren Hochhaussiedlungen neue politische Impulse kommen dürften. «Dort wohnen wohl keine klassischen Linken. Aber zumindest urbaner denkende Bürgerliche, die für ihre Steuern einen gewissen Service public erwarten.»

Der Sozialamt-Skandal

Die Linken hoffen nicht nur auf Impulse aus den «neuen Quartieren», sondern auch auf die Folgen des Skandals, der weit über Dübendorf hinaus für Aufsehen sorgte: Auf dem Sozialamt wurden Klienten schikaniert und herabgewürdigt Sozialamt Dübendorf Bericht zeigt zahlreiche Verfehlungen auf . Eine Burkaträgerin wurde hinter ihrem Rücken etwa als «Pinguin» bezeichnet, eine Klientin als «fette Schlampe». Mehrere rechtliche Vorgaben wurden verletzt, ergab eine externe Untersuchung. Das Amt ist seit 16 Jahren in den Händen der SVP. Linke wie Hans Baumann kritisieren die Zustände schon länger und sehen im Skandal eine logische Folge der SVP-Hardliner-Politik. Sie glauben, dass er die SVP einen Sitz im Stadtrat kosten werde.

Anders sieht es SVP-Gemeinderat Patrick Walder. Die Episode werde für die SVP keine negativen Folgen an der Urne haben, schliesslich habe man zur Aufklärung der Vorgänge ebenfalls Hand geboten. Auch dass die neuen Stadtquartiere eine politische Trendwende bewirken werden, glaubt Walder nicht: «Ich gehe davon aus, dass dort vor allem Expats wohnen, die nicht stimmberechtigt sind, oder Leute, die sich nicht für die Dübendorfer Kommunalpolitik interessieren.» Der SVPler ist sich sicher: Rot-Grün wird auch nach dem 27. März nicht in der Regierung vertreten sein – und Dübendorf die Lieblingsstadt der SVP bleiben.

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