Das Problem:

Vor 30 Jahren erkrankte ich an Krebs. Als ich mich weigerte, mir die Milz herausoperieren zu lassen, machte man mir klar, dass ich nur noch kurze Zeit zu leben hätte. Ich dachte schon: «Juhui, dann bin ich euch los!» Doch leider lebe ich immer noch. Ein medizinisches Wunder zu sein ist mühsam. Trotzdem versuche ich, jeden Menschen anzulächeln und ihm einen glücklichen Tag zu wünschen. Viele Leute erzählen mir auch ihre Probleme. Warum darf ich nicht sterben?

Brigitte K.

Koni Rohner, Psychologe FSP:

Weil Sie noch gebraucht werden, vermute ich. Von den Leuten nämlich, die Sie anlächeln und denen Sie zuhören. Leben und Sterben sind eben Sache Gottes oder des Schicksals, und unsere diesbezüglichen Wünsche werden nicht berücksichtigt.

Ich kann mich aber gut in Sie einfühlen, denn Ihr Brief erinnert mich an ein Gedicht von Goethe, in dem es heisst: «Ach ich bin des Treibens müde, was soll all der Schmerz und Lust, süsser Friede komm, ach komm in meine Brust.» Vielleicht gibt es im Menschen neben dem starken Lebenstrieb auch eine Sehnsucht nach dem Tod, die mit zunehmendem Alter immer stärker wird. Sigmund Freud jedenfalls hat in seinen späten Schriften so etwas vermutet.

Trotzdem ist der Brief von Brigitte K. sehr ungewöhnlich. In unserer Kultur herrscht ja ein Jugendwahn, obwohl die meisten von uns länger alt als jung sind und es viel mehr alte als junge Leute gibt. Alle sind darauf ausgerichtet, möglichst lange jung zu bleiben oder wenigstens jung zu wirken. Gedanken an Alter, Krankheit und Tod verdrängen wir so lange wie möglich. Spätestens um die 50 jedoch wird uns allen bewusst: Wir altern und werden sterben.

Die Wahrheit ist hart, aber ich halte Verdrängen und Flüchten trotzdem für falsch. Es ist eine Chance des Menschen, durch Erkenntnisse zu reifen gerade wenn Letztere schmerzhaft sind. Wer seine Persönlichkeit also weiterentwickeln will, muss durch die Krise der Lebenswende hindurch. Seltsamerweise ist es tabu, über das Älterwerden zu schimpfen, Wut darüber zu empfinden oder auszudrücken. Zorn und Ärger gehören aber genauso zur Alterskrise wie Trauer, Verzweiflung und Ohnmachtsgefühle.

Wer sich all diesen Emotionen stellt und nicht in die Arbeit oder einen zweiten (Pseudo-)Frühling flüchtet, kommt einen Schritt weiter. Der kann bereits darin liegen, zu sehen, dass das Leben nicht mehr besser werden wird. Bisher hat man eine unbefriedigende Gegenwart relativ leicht ertragen, weil man immer die Hoffnung nährte, dass in Zukunft alles leichter und befriedigender würde.

Natürlich war das eine Illusion. Diese Erkenntnis ist jetzt die grosse Chance: Nichts wird besser werden, als es heute oder morgen ist. Deshalb lohnt es sich, die Gegenwart zu geniessen und sie so zu gestalten, als ob es keine Zukunft und keine Vergangenheit gäbe.

Das kann zum Beispiel bedeuten, die Aufmerksamkeit vermehrt auf das körperliche Wohlbefinden zu richten, bevor eine Krankheit zum Hauptthema wird indem man für gesunde Ernährung, genügend Bewegung und Freude am Körperlichen sorgt. Es kann auch darum gehen, so wenig wie möglich Tätigkeiten nachzugehen, die entfremdet sind, die man ungern macht, die einen quälen oder unnötig unter Stress setzen. Oder darum, Freundschaften, Beziehungen und alle möglichen Sozialkontakte zu pflegen. Es geht um die Lust am Alltäglichen.

Zwischen Resignation und Weisheit

Daneben wird man auch spüren, dass es einem gut tut, hin und wieder etwas Selbstloses zu tun, für andere da zu sein, andere zu unterstützen oder etwas von seinen eigenen Erfahrungen weiterzugeben. Und schliesslich tut es gut, Momente der Selbstvergessenheit anzustreben, ohne dass man gleich sterben muss. Durch Meditation, Religion, Natur- oder Kunsterlebnisse und Liebesbegegnungen ist so etwas möglich.

Unser Ego, unser selbstsüchtiges Ich, sträubt sich gegen das Altern. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als dieses Ego etwas loszulassen und zu versuchen, kontemplativer zu werden und die Machtansprüche an die Welt und an andere etwas herunterzuschrauben.

Der Entwicklungspsychologe Erik Erikson sagt, im Alter ginge es um das Spannungsfeld zwischen Resignation und Weisheit. Weisheit bedeutet nicht, dass wir alles verstehen und erkennen. Weisheit bedeutet wohl eher Gelassenheit. Ein weiser Mensch kann akzeptieren, dass er Teil eines Kreislaufs der Natur ist, dem alles Leben unterworfen ist. Werden und Vergehen ist ein Grundgesetz der Welt. Dieses Gefühl der Demut kann zu einer grossen Ruhe und auch wieder zur Freude werden bis ins hohe Alter!