* = Name von der Redaktion geändert

Als Susi Gaillard unter der Dusche per Zufall einen Knoten in ihrer Brust spürt, gilt ihr erster Gedanke jener Krankheit, an der ihre Mutter und ihre Tante starben: Brustkrebs. Der zweite Gedanke gilt der Hoffnung. Das sind doch nur Hormonschwankungen, prämenstruelle Beschwerden, beschwichtigt sie sich. Was noch nicht bestätigt ist, muss nicht unbedingt sein. Die Gewissheit folgt zehn Tage später: Der Knoten ist bösartig und muss entfernt werden.

«Das Schlimmste», sagt Susi Gaillard, «ist das Warten. Das Warten auf die Resultate der Mammographie, das Warten nach der brusterhaltenden Operation. Ist es nun gut? Wie bösartig ist es? Müssen sie noch einmal operieren? Und dann die Gedankenspiele: Wenn es wirklich schlimm wäre, hätten sie es mir längst gesagt. Vielleicht haben sie aber einfach nicht den Mut, mir mitzuteilen, dass ich sterbe.»

Todeswunsch und Überlebenswille

In der Schweiz leben etwa 150000 Menschen mit einer Krebserkrankung. Jedes Jahr kommen rund 28000 hinzu, und fast 17000 sterben an Tumoren – das sind gut ein Viertel der jährlichen Todesfälle. Fünf Jahre nach der Diagnose ist die Hälfte der krebskranken Frauen noch am Leben, bei den Männern ist es jeder Dritte.

Zunächst zweifelt Susi Gaillard, dass sie den Krebs überlebt. Sie muss sich einer zweiten Operation unterziehen, die Brust wird ihr ganz entfernt. Danach folgen Bestrahlung und Wechselbäder der Gefühle. Zwischen Todessehnsüchten und Überlebenswillen fragt sie ihren Arzt im Spital, ob er sie mit einer Brustkrebspatientin bekannt machen könne, die trotz einer Brustentfernung überlebt habe. Der Arzt kann nicht, und für Susi Gaillard ist klar: Niemand überlebt diese Krankheit. Das Pflegepersonal tröstet sie auf hilflose Art und Weise, indem es auf ihre schönen Augen verweist. Susi Gaillard ist empört: «Was haben denn meine blauen Augen mit meiner verstümmelten Brust zu tun?!»

Diese Erfahrungen liegen inzwischen gut 20 Jahre zurück. Seither tat sich in der Betreuung von Krebskranken einiges, nicht zuletzt dank Susi Gaillard: Nach ihrer Genesung half sie 1980 mit, den Verein «Leben wie zuvor» zu gründen. Der Verein steht brustoperierten Frauen zur Seite, bietet Spitalbesuche an, koordiniert Selbsthilfegruppen und ermöglicht Erfahrungsaustausch. Der Verein hat heute 75 Kontaktstellen in der Deutschschweiz.

Der Druck von solchen und ähnlichen Selbsthilfegruppen trug dazu bei, dass sich die Wissenschaft mehr und mehr für eine ganzheitliche Betreuung von Krebskranken interessiert und eine eigenständige Disziplin innerhalb der Krebslehre entstand: die Psychoonkologie. Sie beschäftigt sich mit drei Fragen: Welche seelischen Faktoren können sich auf die Entstehung einer Krebserkrankung auswirken? Welche psychischen Faktoren beeinflussen den Verlauf der Krankheit? Und welchen Einfluss hat die Krankheit auf die Psyche?

Jeder Zweite wird geheilt

Zu den Wegbereitern dieses Konzepts gehört der Fachbereich Onkologie/Hämatologie am Kantonsspital St. Gallen. Unter Leitung der Musik- und Psychotherapeutin Monika Renz wird stationären wie ambulanten Krebskranken ein musiktherapeutischer und psychoonkologischer Dienst angeboten. Liselotte Dietrich, ehemalige Onkologieschwester und diplomierte Sozialbegleiterin, empfängt oft Kranke, die frisch mit der Diagnose Krebs konfrontiert sind: «Was sich hartnäckig im Bewusstsein der Leute hält, ist die Überzeugung, dass Krebs eine tödliche Erkrankung sei. Und das, obwohl rund die Hälfte der Krebserkrankungen geheilt werden.»

Der eigene Tod werde nach der Diagnose unweigerlich zum Thema, sagt Liselotte Dietrich. Wichtig sei, dass die Krankheit nicht das ganze Leben bestimme. «Am Anfang dreht sich alles darum: Therapie, Ängste, Nebenwirkungen. Dann frage ich nach, was denn gut ist im Leben. Oder wir sprechen über Hoffnungen. Eine Patientin etwa stellte danach plötzlich fest, dass sie mehr Hoffnungen als Befürchtungen hat.»

Eine Spirale der Schuldgefühle Aber nicht nur Patienten stehen nach der Diagnose unter Schock und müssen sich neu orientieren: Auch Angehörige fahren mit ihren Gefühlen Achterbahn. Liselotte Dietrich hat beobachtet, dass die Angehörigen emotional oft nicht am selben Punkt sind wie die Kranken.

Martin Zumbühl* zum Beispiel, der vor drei Jahren mit der Diagnose Lymphdrüsenkrebs konfrontiert wurde, konnte lange nicht akzeptieren, krank zu sein; seine Partnerin jedoch versuchte, ihn davon zu überzeugen, dass er die Krankheit annehmen soll. «Als ich endlich so weit war, fiel sie in eine schwere Depression. Danach begann eine Spirale der Schuldgefühle: Ich fühlte mich schuldig, weil ich krank war; sie fühlte sich schuldig, weil sie mir ihre Depression zumutete.»

Das Schonverhalten der Kranken und Angehörigen kennt Liselotte Dietrich gut. Sie weist Paare darauf hin, dass es darum geht, den anderen ernst zu nehmen: «Kranke haben ein beeinträchtigtes Selbstwertgefühl; mutet man ihnen nichts mehr zu, verstärken sich ihre Selbstzweifel.»

Zumbühl erinnert sich, dass er sich zunächst für seine Erkrankung schämte: «Sie zerstörte mein Selbstbild. Ich war doch ein sportlicher, leistungsfähiger Mensch, der immer gut funktionierte. Und plötzlich war ich so kraftlos.»

Mehr Lust, mehr Selbstheilung

Als Martin Zumbühl zum ersten Mal darauf angesprochen wurde, ob er auch einen Sinn in seiner Krankheit sehe, wurde er wütend. «Das heisst doch eigentlich, dass ich selber schuld bin.» Auch Susi Gaillard empört sich, wenn es um die Schuldfrage geht: «Kürzlich traf ich eine Frau, die von sich sagte, sie sei halt ein Krebstyp, weil sie sehr nachtragend sei.»

Die Annahme, dass bestimmte Persönlichkeitsmerkmale zu Krebs führen können, hat eine lange Tradition und ist mittlerweile auch bei Laien tief verankert. Belegt ist die These jedoch nicht. Hingegen gibt es in den Krebsstudien des deutschen Forschers Ronald Grossarth-Maticek hinreichend Belege, dass psychosoziale Betreuungsprogramme die Lebensqualität von Krebskranken markant erhöhen können – und in vielen Fällen auch das Leben verlängern. Grossarth-Maticek zeigte auf, dass die so genannte Selbstregulation des Körpers besser funktioniert, wenn es gelingt, dem Leben die lustvollen Seiten abzugewinnen. Wer hingegen Hemmungen hat, seine Wünsche und Bedürfnisse auszudrücken, geschweige denn einzufordern, behindert die Selbstheilung.

Susi Gaillard und Martin Zumbühl stellen sich dem Leben wieder. Die Angst vor einem Rückfall sind sie nicht los. Doch aus der Angst, so Susi Gaillard, sei der Respekt vor sich selber gewachsen.

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