Es ist ganz normal: Wer einen neuen Fernseher, einen neuen Geschirrspüler, ein neues Bügeleisen kaufen möchte, prüft erst mal verschiedene Marken und Modelle, schaut sich die Produkttests an, vergleicht die Preise und entscheidet schliesslich. So weit, so sinnvoll.

Wenn es hingegen um die Gesundheit geht, fühlen sich viele unwohl beim Gedanken daran, eine Zweitmeinung einzuholen. Ein Wunder ist das nicht. Viel zu lange sahen Ärztinnen und Ärzte darin einen Vertrauensbruch oder zumindest ein grobes Misstrauensvotum.

Diese Zeiten sind vorbei, sagt Psychotherapeutin Annina Hess-Cabalzar, Initiantin des Café Med (siehe Box unten): «Die Kultur der Zweitmeinung ist bei Ärztinnen und Ärzten heute etabliert. Ein schlechtes Gewissen muss deswegen niemand mehr haben.» Mehr noch: Expertenboards gehören in manchen medizinischen Bereichen mittlerweile zum Standard. Dabei tauschen sich Fachpersonen verschiedener Disziplinen aus und suchen gemeinsam die beste Therapie für die Patientin.

Es geht auch um Ängste

Selbstverständlich braucht es nicht für jede Behandlung eine zweite Einschätzung. Wann sie sinnvoll ist, hängt vor allem vom eigenen Befinden ab, sagt Hess-Cabalzar. Denn es gebe Diagnosen und Behandlungsformen, die zwar unproblematischer Standard sind, für Patientinnen und Patienten aber eine grosse Belastung werden können. So sei das zum Beispiel bei Diabetes. Hier ist der Behandlungsplan aus medizinischer Sicht weitgehend unbedenklich. Doch die Betroffenen müssen langfristig Medikamente einnehmen und regelmässig zur Kontrolle gehen. Das kann sie unter Umständen emotional stark belasten.

Die klinische Psychotherapeutin rät deshalb dazu, immer dann eine Zweitmeinung einzuholen, wenn einen eine medizinische Entscheidung stark beschäftigt und man unsicher ist.

Einen Schritt weiter geht Susanne Gedamke, Geschäftsführerin der Schweizerischen Stiftung SPO Patientenorganisation: «Zweitmeinungen sind fast immer sinnvoll – besonders aber bei Mehrfacherkrankungen oder vor schwerwiegenden Eingriffen . Ich finde es bedauerlich, dass diese Möglichkeit relativ selten in Anspruch genommen wird.»

Vertrauensperson finden

Doch welche Zweitmeinung bringt einem die erhoffte Sicherheit? Beide Expertinnen raten dazu, zuerst auf die behandelnde Ärztin oder den Arzt zuzugehen. So kann man transparent mitteilen, dass man noch Informationen braucht. «Manchmal reicht es bereits, wenn sich behandelnde Ärzte mehr Zeit nehmen, um nochmals auf offene Fragen einzugehen . Alternativ können sie aber auch eine andere Fachperson empfehlen», sagt Gedamke. Sinnvoll kann aber auch die Nachfrage bei der Hausärztin, beim Kantonsspital, bei Bezirksärzten, einem spezialisierten Behandlungszentrum oder bei den Fachleuten des Café Med sein.

«Manche Betroffene sind nach dem Erhalt einer Zweitmeinung noch verwirrter als zuvor.»

Susanne ­Gedamke, Geschäftsführerin Schweizerische Stiftung SPO Patientenorganisation

Krankenkassen können ebenfalls an Fachpersonen verweisen. Sie müssen die Kosten für die Konsultation jedoch nicht übernehmen. Die meisten Kassen tun es trotzdem, sagt Susanne Gedamke. Denn: «Sie haben ein grosses Interesse daran, dass alles auf Anhieb richtig gemacht wird. Deshalb sind sie nach vorgängiger Absprache oft bereit, die Kosten für eine zweite Beratung zu übernehmen.»

Fragen für das Beratungsgespräch vorbereiten

Diesen Termin sollte man optimal nutzen. Das bedeutet unter anderem, dass man sich auf das Gespräch vorbereitet. Psychotherapeutin Annina Hess-Cabalzar rät, dass sich Betroffene vorgängig folgende Fragen stellen:

  • Verstehe ich meine Diagnose Patientenaufklärung Was soll das heissen, Herr Doktor? genau?
  • Kenne ich die verschiedenen Behandlungsoptionen?
  • Weiss ich über den Nutzen und die Risiken dieser Optionen Bescheid?
  • Weiss ich, wie erfolgversprechend die Behandlungsoptionen sind?
  • Kenne ich die Alternativen?
  • Welche Informationen benötige ich noch, um mich zu entscheiden?
  • Kann ich mit meiner Entscheidung zuwarten oder muss ich sofort handeln?

Oft hätten Patientinnen und Patienten auch deshalb ein ungutes Gefühl, weil ihnen die wichtigsten Infos fehlen. «Ziel des Beratungsgesprächs sollte sein, dass man sich danach kompetent genug fühlt, die beste Entscheidung für die eigene Lebenssituation zu treffen», so Hess-Cabalzar. Es kann helfen, eine Bezugsperson zum Gespräch mitzunehmen, die Notizen macht und eventuell nachfragt. So stellt man sicher, dass man alles verstanden hat und jederzeit wieder nachlesen kann.

Abwarten und Tee trinken?

Susanne Gedamke von der Patientenorganisation warnt aber vor zu hohen Erwartungen. «Viele glauben, eine Zweitmeinung sei der Wahrheit letzter Schluss. Tatsächlich sind manche Betroffene danach noch verwirrter als zuvor.» Auch eine dritte und vierte Einschätzung führe nicht immer zu einem klaren Ergebnis. Und: «Wenn es medizinisch vertretbar ist, rate ich dazu, im Zweifelsfall eher zuzuwarten, als etwas zu tun, bei dem man sich nicht sicher ist.»

Café Med: Gratis Ratschläge von Fachleuten

In Bern, Zürich, St. Gallen, Basel, Luzern, Chur und Winterthur gibt es bereits ein sogenanntes Café Med. Hier beantworten Ärztinnen und Ärzte verschiedener Fachrichtungen sowie Psychologinnen und Sozialarbeiter Fragen von Patientinnen, Patienten und von Angehörigen. Das Angebot der Akademie Menschenmedizin ist kostenlos.

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