Jasmina Auer* ist voller Lebensfreude, gesund und sportlich. Doch vor zwei Jahren kam sie an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Sie hatte einen zweiten Sohn bekommen, dieser schlief schlecht – und sie dann auch.

Wie aus dem Nichts leidet die 33-Jährige aus Herisau AR plötzlich an Kurzatmigkeit. Vor allem in der Nacht muss sie richtiggehend nach Luft schnappen, kann nicht richtig tief einatmen. «Ich habe gedacht, ich ersticke. Die Brust schmerzte, das Herz raste, und ich bekam eine Panikattacke Panikanfälle Ein dunkles Leben mit der Angst im Nacken

Manchmal ist es so schlimm, dass sie mitten in der Nacht die Ambulanz ruft. «Ich dachte, ich sterbe, hatte Todesangst.» Über Monate lässt sie sich von Lungenspezialisten und Kardiologinnen untersuchen. Sie bescheinigen ihr: Organisch ist alles tipptopp. Erst der letzte Kardiologe vermutet einen psychosomatischen Zusammenhang: Hyperventilationssyndrom oder nervöse Atemnot, wie es Sigmund Freud nannte.

«Man fürchtet um sein Leben»

«Herz, Lunge oder Bronchien arbeiten meistens prima – die Atemstörung kommt nicht von dort», sagt der Psychologe Wolf Langewitz. Er beschäftigte sich jahrelang mit funktionellen Atemstörungen, am Unispital Basel, Abteilung Psychosomatik.

Es ist normal, dass sich die Atmung bei Aufregung oder Stress verändert. Man atmet schneller, manche aber auch zu tief oder einfach falsch. Wenn das über längere Zeit passiert, wird nicht nur mehr Sauerstoff eingeatmet als nötig, sondern vor allem zu viel Kohlendioxid ausgeatmet.

Das Gehirn fordert: «Jetzt tief atmen, schneller atmen!», um den CO2-Spiegel im Blut wieder zu erhöhen. Man beginnt zu hyperventilieren. Die Atemmuskeln im Brustkorb werden dabei zunehmend müde – die Brust beginnt zu schmerzen, Druck entsteht. Man muss seufzen und gähnen, fühlt sich benommen und schwindlig, man schwitzt, die Finger kribbeln und zittern oder Hände und Füsse werden kalt.

Hyperventilieren sieht dabei selten aus wie im Hollywoodfilm. «In der Realität merken die Betroffenen oft gar nicht, dass sie hyperventilieren. Darum kommen die Atembeschwerden unerwartet», sagt Langewitz.

«Man fürchtet um sein Leben und landet dann nicht selten in der Notaufnahme.» Dort wird man gleich wieder als kerngesund entlassen, denn alle vitalen Parameter wie Sauerstoffsättigung, Lungenfunktion, Herzschlag und EKG sind im grünen Bereich. Doch die Panik verstärkt sich, die Atmung verschlechtert sich zusätzlich, vor allem nachts. Ein Teufelskreis.

Jahrelang falsche Diagnosen

Atemstörungen kommen öfter vor, als man denkt. «Jüngere Frauen sind besonders oft betroffen», sagt Tanja Müller, Jasmina Auers Hausärztin.

Es wird ihnen zu viel mit Karriere, Familie, vielen Anforderungen, chronischer Belastung und dazu noch gesellschaftlichen Zwängen . Das macht vielen Angst – ein Auslöser für funktionelle Atemstörungen.

«Vor allem ängstliche und sensible Menschen sind dafür anfällig», sagt Psychologe Langewitz. Wie viele von funktionellen Atemstörungen betroffen sind, ist nicht genau bekannt. Das Forschungsnetzwerk Cochrane schätzt, dass etwa 9,5 Prozent der Bevölkerung darunter leiden. Auch viele Asthmatiker hyperventilieren von Zeit zu Zeit.

«Bei einem akuten Anfall sollte man versuchen, die Person zu beruhigen. Bei einem gesunden Menschen kann nichts passieren.»

Wolf Langewitz, Psychologe

Jasmina Auer brauchte über ein Jahr, bis sie die richtige Diagnose bekam. Das sei typisch, sagt Langewitz: «Im Bereich der Schulmedizin, die nach körperlichen Ursachen sucht, sind funktionelle Atemstörungen nicht zu fassen. Deshalb haben viele Betroffene einen langen Weg von Praxis zu Praxis vor sich, oft über Jahre hinweg.»

Viele erhalten dabei die Diagnose Asthma bronchiale, denn die Symptome sind ähnlich. Bloss helfen ihnen die Asthmamedikamente nicht. Die richtige Diagnose sei oft eher ein Zufall.

«Bei einem akuten Anfall sollte man versuchen, die Person zu beruhigen. Bei einem gesunden Menschen kann nichts passieren», sagt Langewitz. Helfen kann auch der gute alte Trick: in einen Plastiksack atmen. Dabei atmet man das eigene ausgestossene Kohlendioxid wieder ein. Dadurch steigt der CO2-Gehalt im Blut wieder auf den richtigen Pegel, und das Gehirn hört auf, mehr Luft zu fordern.

Atmen lernen

Nachhaltig verbessert sich der Zustand allerdings nur, wenn man an der eigenen Atemtechnik arbeitet (siehe «Tipps: So atmen Betroffene richtig»). Doch das braucht Geduld. «Ein anderer Atemtypus will gelernt sein», sagt Langewitz.

Physiotherapie kann dabei helfen, zu lernen, mit geschlossenem Mund über den Bauch zu atmen und weniger über die Brust. Genauso wichtig ist aber die psychische Komponente. Stressfreie Zonen im Alltag schaffen, gelassener werden, sich besser einschätzen lernen – kurz: sein Leben verändern. Dabei wiederum kann eine Psychotherapie helfen.

«Heute geht es mir viel besser. Ich habe wieder Vertrauen in meinen Körper.»

Jasmina Auer*, Betroffene

Diese Massnahmen haben auch Jasmina Auer geholfen. Heute macht sie Atemübungen, hat gelernt, besser mit Stress umzugehen, nimmt Baldrian, schläft genug, praktiziert autogenes Training und Muskelentspannung. Und: Sie hat ihre Arbeitszeit um zehn Prozent reduziert.

«Heute geht es mir viel besser. Ich habe wieder Vertrauen in meinen Körper.» Sie hat realisiert: Es muss nicht alles perfekt sein, man muss nicht allen anderen gerecht werden. Man kann auch zu anderen Nein sagen und an sich denken.

Nur manchmal, wenn wieder mal die Atemnot kommt, denkt sie: Haben die Ärztinnen und Ärzte doch etwas übersehen? «Dann setze ich mich aufs Sofa, nehme mir Zeit für mich selbst und lese ein Buch.»
 

Name geändert

Tipps: So atmen Betroffene richtig
  • Atmen Sie möglichst durch die Nase.
  • Versuchen Sie, doppelt so lange aus- wie einzuatmen.
  • Machen Sie nach dem Einatmen eine kurze und nach dem Ausatmen eine etwas längere Pause.
  • Auch das Summen mit geschlossenen Lippen hilft – es verlangsamt die Atmung.
  • Trainieren Sie täglich, die Luft anzuhalten: einmal tief einatmen und dann nicht mehr atmen, allenfalls etwas Luft ablassen. Ziel: 40 bis 60 Sekunden lang nicht atmen.
  • Atmen Sie über den Bauch und nicht über die Brust: Legen Sie beim Atmen die Hände auf den Bauch. Beim Einatmen sollte er sich leicht wölben.
  • Vermeiden Sie es, zu seufzen, besser ist schlucken oder sich strecken.
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