Beobachter: Eine aktuelle Studie der Weltgesundheitsorganisation WHO zeigt, dass Erwachsene mit ADHS am Arbeitsplatz weniger produktiv sind. Warum ist das so?
Dominique Eich-Höchli: Dafür können viele Symptome verantwortlich sein: fehlende Aufmerksamkeit, Desorganisation, schlechtes Zeitmanagement oder die emotionale Übererregbarkeit. Zudem sind Grossraumbüros Gift für die Betroffenen. Und - eine ADHS-Störung kommt selten allein.

Beobachter: Was heisst das?
Eich-Höchli: Etwa die Hälfte der Betroffenen zeigen weitere psychische Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen oder Suchtkrankheiten. Zudem neigen sie zur Delinquenz und im Alltag zu riskantem Verhalten. So verursachen sie häufiger Unfälle, haben öfter unerwünschte Schwangerschaften und instabile Partnerschaften.

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Beobachter: Früher wurden Erziehungsfehler, Vernachlässigung und frühkindliche Traumata für die Ursachen von ADHS gehalten. Und heute?
Eich-Höchli: Nach heutiger Auffassung handelt es sich um eine ererbte hirnorganische Funktionsstörung. Die früher beschriebenen sozialen und pädagogischen Faktoren sind sekundär und eher als Behandlungsversuche der Umgebung auf die Symptomatik zu verstehen.

Beobachter: Ist ADHS eine Gesellschaftskrankheit?
Eich-Höchli: Nein, die Störung gibt es ja schon lange, beschrieben etwa im Zappelphilipp anno 1845. Nur: Früher galten Betroffene vielleicht als kurlige Leute, fanden aber trotzdem ihre Marktnische. Heute fallen sie hingegen eher durch die Maschen.

Beobachter: Und mit dem Methylphenidat schleift man ihnen die Kanten ab?
Eich-Höchli: Ich sehe das nicht so. Diese Menschen verlegen ja nicht bloss einmal den Schlüssel und bekommen gleich Methylphenidat, sie verlegen ihn vielleicht 70 Mal, haben Wutausbrüche und schalten in Gesprächen immer wieder auf Durchzug. Das hat weitreichende soziale Folgen. Medikamente wie Ritalin oder Concerta sind wie ein Spazierstock, den die Person braucht, um funktionieren zu können. Und um eine weiterführende Psychotherapie in vielen Fällen überhaupt zu ermöglichen.

Beobachter: Die Person ist noch die gleiche?
Eich-Höchli: Ja, selbstverständlich. Wenn Philipp nicht mehr zappelt, bleibt er trotzdem Philipp, mit seinen persönlichen Vorlieben und Eigenarten. Aber die Angst, ein psychoaktives Medikament würde ihre Persönlichkeit verändern, kennen viele Patienten.

Beobachter: Warum wirkt eine amphetaminähnliche Substanz, also ein eigentliches Aufputschmittel, auf ADHS-Patienten beruhigend?
Eich-Höchli: Sie haben recht, das scheint widersprüchlich. Methylphenidat aktiviert den Hirnstoffwechsel von Nichtbetroffenen. Anders ist es bei ADHS: Hier hemmt es Hyperaktivität und Impulsivität und fördert die Aufmerksamkeit. Bei Kaffee würde man auch meinen, es wecke auf. Trotzdem verordnen wir alten Menschen gelegentlich bei Schlafproblemen Koffeintabletten. Das heisst: In unterschiedlichen Lebensphasen können gleiche Substanzen anders wirken.


Beobachter: Kann Methylphenidat süchtig machen?
Eich-Höchli: Das wird zwar oft behauptet, konnte aber in keiner wissenschaftlichen Studie belegt werden. Im Gegenteil: Eine rechtzeitig eingeleitete und wirksame Therapie ist wohl die wirkungsvollste Massnahme gegen spätere Abhängigkeitsstörungen.

Beobachter: Und allfällige Nebenwirkungen?
Eich-Höchli: Zuerst möchte ich festhalten, dass Methylphenidat seit 1954 auf dem Markt ist und sich bis heute gehalten hat. Nebenwirkungen sind insgesamt selten, doch es gibt sie, wie bei vielen anderen Medikamenten auch. Es kann Angst- und Spannungszustände verstärken, in körperlicher Hinsicht den Blutdruck erhöhen und zu Gewichtsabnahme führen. Eine Überdosis kann selten psychoseähnliche Zustände auslösen. Deshalb ist bei der Indikationsstellung eine sorgfältige Abklärung möglicher Vorerkrankungen notwendig.

Beobachter: Es gibt nach wie vor Leute, die ADHS als Krankheit generell in Abrede stellen. Verstehen Sie das?
Eich-Höchli: Nein. Zu viele wissenschaftliche Studien zeigen, dass es ADHS gibt. Auch meine klinische Erfahrung in der Abklärung und Behandlung von ADHS-Betroffenen haben mich zur Überzeugung gebracht, dass diese Störung grosses Leiden verursachen kann, aber auch, dass sie mittlerweile gut behandelbar ist.

Beobachter: Ein kurzer Blick in die Zukunft: Werden wir in 20 Jahren noch ohne Medikamente im Alltag bestehen können, wenn es in diesem Tempo weitergeht?
Eich-Höchli: Ich hoffe doch sehr, auch im Interesse unserer Kinder. In diesem Punkt halte ich es mit Darwin: Die Evolution wird wohl weitergehen, das heisst, dass sich die Menschen an die künftigen Lebensumstände anpassen werden.