Untersuchen, therapieren, verschreiben: Das bringt Geld aufs Arztkonto. Schliesslich gilt auch für Ärzte: Wer nichts tut, verdient nichts. Doch was auf den ersten Blick einleuchtend klingt, hat für das Gesundheitssystem gravierende finanzielle Folgen: Die Krankenkassenprämien steigen und steigen.

Die Schweiz ist krank. Rund 79 Millionen Diagnosen stellten Ärztinnen und Ärzte 2004, dies zeigt ein Bericht von Interpharma, dem Verband der forschenden Pharmafirmen der Schweiz. Rechnet man diese 79 Millionen auf die Gesamtbevölkerung um, ergibt sich, dass im letzten Jahr jeder Einwohner jeden Monat eine Diagnose gestellt bekam. Angesichts solcher Zahlen liegt die Vermutung nahe, dass sich nicht hinter jeder Diagnose auch ein therapiewürdiger Körperzustand verbirgt.

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Die beliebtesten unnötigen Eingriffe

Neben der medizinischen Indikation spielt auch Eigeninteresse mit, wenn ein Arzt zum Messer greift: «Das Materielle spielt immer eine Rolle», sagt Reto Guetg, Vertrauensarzt von Santésuisse, dem Branchenverband der schweizerischen Krankenversicherer. Grenzen werden der Behandlungswut der Mediziner kaum gesetzt: Einmal zugelassen, kann ein Arzt seine erbrachten Dienstleistungen nahezu uneingeschränkt zulasten der Krankenkasse abrechnen. «Erst die Aufhebung des Vertragszwangs würde den Versicherern ein wirksames Steuerungsinstrument in die Hand geben», sagt Guetg.

Insbesondere wenn der Arzt folgende Operationen vorschlägt, sollte der Patient hellhörig werden: Entfernung der Mandeln, der Gebärmutter, der Gallensteine und der Prostata, Kniespiegelungen sowie Bandersatzoperationen. Die Liste ist nicht vollständig. «Grundsätzlich ist bei fast jeder Operation eine gesunde Portion Skepsis und die Einholung einer Zweitmeinung angebracht. Am besten bei einem Arzt, der selber nicht operiert», sagt Adrian Wirthner, Facharzt für Allgemeine Medizin und Leiter der Grundversorger-Praxis Bubenberg in Bern, die Teil des schweizweiten Ärzteverbunds Medix ist.

Wirthner kritisiert, was er den «unadäquaten Optimismus» der Chirurgen nennt. Im Unterschied zur gemeinhin praktizierten maximalen Medizin versuchen die Ärzte in seiner Grosspraxis, Hospitalisierungen und Operationen zu verhindern, die dem Patienten keinen oder nur geringen Nutzen bringen. Evidenzbasierte Medizin heisst das Zauberwort: In erster Linie werden Behandlungen verschrieben, deren Nutzen durch ernst zu nehmende wissenschaftliche Studien einwandfrei belegt ist.

Ein Anhänger dieses Systems ist auch Luzi Dubs, Facharzt für Orthopädische Chirurgie in Winterthur und früherer Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Orthopädie. Seit neun Jahren führt Dubs keine Bandersatzoperationen am Knie mehr durch. «Der Nutzen für die Verzögerung oder Verhinderung einer Arthrose ist nicht erwiesen. Im Gegenteil: Tendenziell bekommen Operierte eher früher eine Arthrose.» Dubs empfiehlt, generell bei jenen Operationen Vorsicht walten zu lassen, bei denen kein unmittelbarer Zeitdruck besteht. Und sein zweiter, etwas ketzerischer Tipp: Man wähle Ärztinnen und Ärzte mit langer Berufserfahrung und langen Wartelisten. Diese neigten durch die gute Praxisauslastung eher zur Zurückhaltung bei operativen Eingriffen.

Kassen lassen oft mit sich reden

Patienten, die eine Zweitmeinung wünschen, befinden sich in einem Dilemma: Wird der behandelnde Arzt den Wunsch nicht als Vertrauensbruch werten? Hier helfen Versicherungsmodelle, wie sie einige wenige Krankenkassen anbieten. Zum Beispiel die Swica: Verpflichtet sich der Versicherte zur Einholung einer Zweitmeinung, gewährt ihm die Kasse einen Rabatt von fünf Prozent auf die Prämie der Zusatzversicherung. Gegenüber dem Arzt kann der Patient den Wunsch nach einer Zweitmeinung mit dem Hinweis auf seine Krankenkasse begründen.

Aber auch ohne ein spezielles Versicherungsmodell lohnt sich die Rückfrage beim Krankenversicherer: «Viele Kassen zeigen sich kulant und offerieren eine Zweitmeinung ohne Kostenbeteiligung für den Patienten», sagt Peter Marbet, Mediensprecher von Santésuisse. Der übliche Selbstbehalt von zehn Prozent und die Franchise entfallen in diesem Fall.

Auf dem Pult von Peter Schmucki landen die Dossiers jener Patienten, die das Einholen einer Zweitmeinung versäumt haben – und erst durch die Operation richtig krank wurden. Schmucki ist Anwalt der Schweizerischen Patienten- und Versicherten-Organisation (SPO). Er bearbeitet unter anderem den Fall einer jüngeren Frau, die einen Kreuzbandriss erlitten hatte. Ihr Arzt riet zur Operation. Jetzt leidet die Frau dauernd an Knieschmerzen; sie muss die Beine hochlagern, jegliche sportliche Aktivität bleibt ihr versagt. «Der Arzt hatte der Frau versprochen, mit der Operation werde alles gut», sagt Schmucki.

Den Arzt intensiv befragen

Er kritisiert, dass Patienten im Spital oft unter Zeitdruck stehen, wenn es darum geht, die vom Gesetz verlangte Einwilligung zur Operation zu unterschreiben. Eine gründliche Auseinandersetzung mit dem bevorstehenden Eingriff sei nicht möglich, wenn die Patienten am Abend ins Spital eintreten und schon am nächsten Tag operiert werden sollen. Schmuckis Empfehlung: Dem Arzt alle Fragen stellen, die einem in den Sinn kommen, und zuletzt die wichtigste nicht vergessen: «Würden Sie den Eingriff auch an sich selber durchführen lassen?»

Quelle: Agentur Gettyimages