Rita Iten konnte nicht mehr länger herumsitzen. Etwas musste geschehen. Sie klappte den Laptop auf und tippte in ihr Facebook-Konto: «Bitte helft uns, unsere Tochter wird vermisst. Bitte teilt es, und für Hinweise sind wir immer dankbar.» Das war am 28. Juli 2015. Um 8.36 Uhr klickte Rita Iten auf «posten», der Beitrag war veröffentlicht. Zusammen mit einem Foto der 15-jährigen Alexandra*. Die Mutter wusste nicht, dass sie gerade eine Lawine losgetreten hatte.

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Dass ihre Tochter verschwunden war, hatte die 42-jährige Walliserin einen Tag zuvor erfahren. Alexandra wohnte inzwischen bei ihrem Vater in der Nähe von Bern, erzählt Rita Iten. «Als mich mein Ex-Partner anrief und sagte, unsere Tochter sei schon seit mehreren Tagen weg, wurde ich wütend. Aber vor allem hatte ich Angst um Alexandra.» Sie erkundigte sich bei der Berner Kantonspolizei, die ihr bestätigte, dass das Mädchen als vermisst gemeldet sei, dass man aber auf eine öffentliche Vermisstenanzeige verzichtet habe. Das konnte die Mutter nicht begreifen.

Gabriele Berger, Chefin Spezialfahndung 1 der Kapo Bern, versteht die Mutter. Aber: «Wenn uns eine Person als vermisst gemeldet wird, prüfen wir sorgfältig die zu treffenden Massnahmen. Dazu gehört auch die Frage, ob eine öffentliche Suche nach der vermissten Person sinnvoll ist oder nicht.

Persönliche Dinge werden öffentlich

Rita Iten hatte kein Verständnis für diese Haltung, obwohl Alexandra nicht das erste Mal abgetaucht war. «Ich lag die ganze Nacht wach.» Am Morgen hielt sie es nicht länger aus und stellte die Vermisstmeldung auf Facebook. Je mehr Publikum, umso eher würde sie einen Hinweis erhalten, dachte sie.

Private Suchaufrufe in sozialen Medien seien keine gute Idee, sagt Fahnderin Gabriele Berger. «Solche Vermisstmeldungen können für die Betroffenen zu sehr belastenden Situationen führen.» Denn ein Aufruf gerate ausser Kontrolle, wenn er von Tausenden weiterverbreitet werde. Neben dem Aussehen würden sehr schnell private und persönliche Dinge öffentlich bekannt. Dinge, die niemanden etwas angehen. Wenn eine vermisste Person keinen Kontakt mit den Angehörigen wolle, könne die Situation auch eskalieren. «Dann will der Betroffene vielleicht aus Scham nicht mehr nach Hause zurückkommen», so Berger. Was die Arbeit der Polizei noch schwieriger mache.

«Ich dachte, ‹Scheisse, da ist ja mein Foto!›. Das war schon sehr unangenehm.»

Alexandra Iten*, mit 15 Jahren abgehauen

Rita Itens Suchaufruf verbreitete sich in 24 Stunden schweizweit über 13'000 Mal. «Im ersten Moment war ich sehr froh darüber.» Am 29. Juli, einen Tag nachdem Rita Iten den Suchaufruf gepostet hatte, griffen die Medien die Geschichte auf. «Ist sie ausgebüxt?», titelte der «Walliser Bote» am Vormittag auf seiner Website. Am Abend sprang 20minuten.ch auf. In dieser Zeit war der Suchaufruf bereits über 17'000 Mal geteilt worden. 

Rita Iten kam ins Grübeln. «Plötzlich dachte ich: Was habe ich da nur getan? Trotzdem war die Hoffnung grösser, dass meine Tochter durch den Suchaufruf gefunden wird.» Am selben Abend ergänzte sie die Vermisstenanzeige mit diesen Zeilen: «Ihr Name ist Alexandra, letzter bekannter Aufenthaltsort: Bern Schanze oder Schwellenmätteli. Grösse ca. 1,58, braune Augen.»

Roman Ott, Experte für soziale Medien, warnt vor der Facebook-Suche. «Oft werden solche Vermisstmeldungen kopiert und neu hochgeladen. Auch wenn der Originalpost korrekt gelöscht oder ergänzt wurde oder die Suche hinfällig geworden ist, geistern die Suchaufrufe weiter durchs Netz. Opfer und Angehörige werden so jahrelang an ein Schicksal erinnert.»

Manche wollen einfach eine Auszeit

Fragwürdig sei auch das Teilen solcher Aufrufe. Denn man wisse meistens nichts über die Hintergründe, könne nicht beurteilen, ob die Geschichte stimme, so Kapo-Fahnderin Berger. «Es gibt immer wieder Fälle von Menschen, die auf Facebook als vermisst gemeldet werden, in Tat und Wahrheit aber schon wieder gefunden wurden oder sich einfach eine Auszeit genommen haben.» Bis das bekannt werde, kennen aber schon Tausende ihr Gesicht.

Auch aus rechtlicher Sicht ist das Teilen heikel. Persönlichkeitsrechte der verschwundenen Person sind schnell verletzt, sagt Anwalt Martin Steiger. «Gerade mit Blick in die Zukunft können solche Aufrufe verheerende Folgen haben. Denn künftig werden Algorithmen zur Gesichtserkennung in der Lage sein, Kinderfotos im Netz ohne weiteres einer Person zuzuordnen. Dabei wird dann auch die Vermisstenanzeige wieder erscheinen.»

Und wie erging es Alexandra in dieser Zeit? Die damals 15-Jährige steckte in einer Krise. Heute sagt sie: «Alle redeten auf mich ein, wollten, dass ich eine Lehre mache. Aber ich wollte nicht. Und dann hatte mein Papi auch noch eine neue Freundin. Irgendwann wurde es mir zu viel, ich musste weg.» Alexandra schaltete damals ihr Handy aus, sie erfuhr erst später durch Freunde, dass ihre Mutter via Facebook nach ihr suchte.

«Ich dachte, ‹Scheisse, da ist ja mein Foto!›. Das war schon sehr unangenehm, vor allem, als dann auch noch die Medien darüber berichteten. Ich war wütend auf meine Mutter.» Ihre erste Reaktion: Sie färbte ihre orange gefärbten Haare schwarz.

«Mit Blick in die Zukunft können solche Aufrufe verheerende Folgen haben.»

Martin Steiger, Anwalt

Unterdessen war der Suchaufruf auf Facebook bereits über 30'000 Mal weiterverbreitet worden. Rita Iten erhielt Hunderte von Nachrichten mit Hinweisen, wo ihre Tochter sein könnte. «Vieles konnte gar nicht stimmen. Einigen Hinweisen bin ich trotzdem nachgegangen.» Zum Beispiel, dass ihre Tochter bei den Berner Waldmenschen im Bremgartenwald lebe. «Ich bin einen ganzen Tag kreuz und quer durch diesen Wald gewandert, aber die Siedlung habe ich nicht gefunden.» 

In einer Pflegefamilie untergekommen

Ein anderer schrieb, Alexandra sei mit schwarzen Haaren gesehen worden. Darauf ergänzte Rita Iten auf Facebook ihren Aufruf: «Sie hat jetzt die Haare schwarz.»

Zwei Tage später kam ein Hinweis, dass Alexandra in Bern mit einer Gitarre auf der Strasse musiziere. Rita Iten informierte die Polizei, welche Alexandra aufgriff. Am Nachmittag meldete die Mutter auf Facebook: «Alexandra ist wieder da. Vielen Dank an alle, die geholfen haben.»

Heute wohnt Alexandra bei einer Pflegefamilie im Jura. Sie kann die Reaktion ihrer Mutter inzwischen verstehen: «Wir haben darüber geredet. Sie war verzweifelt und hatte Angst.»

Und die Mutter, würde sie es wieder tun? «Nein, Alexandra wird bald volljährig. Wenn sie jetzt untertauchen würde, käme bestimmt kein Suchaufruf von mir.» Doch dann überlegt sie kurz. Und sagt: «Aber damals war sie halt erst 15. Und der Facebook-Aufruf war ja erfolgreich.» Wenigstens das.

Dass Alexandra als Teenager abgehauen ist, wird andererseits für immer in ihrer digitalen Identität vermerkt sein. Wenn jemand – zum Beispiel bei einer Stellenbewerbung – im Internet nach ihr sucht, wird er auf die Geschichte um ihre Flucht stossen. 

Und auch wenn die Geschichte am Ende glimpflich ausging, können solche Suchaufrufe im wirklichen Leben verheerende Folgen haben. So kann zum Beispiel die öffentliche Aufmerksamkeit die Krise eines getürmten Jugendlichen noch verschärfen. Im schlimmeren Fall bleibt es nicht bei gefärbten Haaren.

*Name geändert