«Ich wusste immer, dass ich anders bin als die meisten. Bestätigen wollte mir das niemand. 70 Jahre lang behaupteten Ärzte, Verwandte und Eltern, ich sei ganz normal. 70 Jahre lang fühlte ich, dass das nicht stimmen konnte. Als ich 14 war und in einem Heim mit anderen Jungen duschte, bemerkte ich, dass ich anders gebaut bin. Wo andere eine Wölbung hatten, ging es bei mir flach hinab. Als bei den Buben der Bart zu spriessen begann, blieb mein Gesicht fein wie das eines Mädchens. Während die Kollegen einen definierten Bizeps entwickelten, fuhr ich immer noch Bus zum halben Tarif, weil ich so kindlich aussah.

Irgendwo hatte ich aufgeschnappt, ein Mann müsse mit seinem Penis in eine Frau eindringen, damit ein Kind entstehe. Ich schaute mich an und fragte mich, wie zum Teufel das funktionieren sollte. Abnormal fühlte ich mich trotzdem nie. Sex war ein Tabu. Wir hatten keine Ahnung, was normal ist und was nicht.

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«Jeder Arzt winkte ab»

Am Tag meiner Hochzeit brach meine Mutter nach 30 Jahren endlich ihr Schweigen. «Du bist operiert», warnte sie mich. «In der Hochzeitsnacht wird nicht alles funktionieren.» Ich werde noch heute wütend, wenn ich daran denke. All die Jahre liess sie mich im Ungewissen, und dann, als ich endlich eine Frau gefunden hatte, belastete sie mich damit. Zwei Jahre darauf starb meine Mutter. In den folgenden Jahren ging ich von einem Arzt zum nächsten. Ich wollte wissen, was mit mir gemacht worden war. Jeder winkte ab: alles gut, alles normal.

Irgendwann wurde ich erfinderischer. Ich ging zu einer erotischen Masseurin und bat sie, mein Glied mit dem anderer Kunden zu vergleichen. Sie bestätigte mir unverblümt, dass ich anders aussehe als andere Männer und dass bei mir bestimmt etwas verkehrt gelaufen sei. Ich hatte die Hoffnung auf eine professionelle Diagnose schon fast aufgegeben, als ich zufällig das Gespräch zweier Ärzte mitverfolgte, die vergessen hatten, die Tür zum Behandlungszimmer zu schliessen. «Hast du gesehen, der hat keinen Penis. Das ist ein Intersexueller.» Als ich sie zur Rede stellte, schwiegen sie zum Thema.

«Ein Sonderfall, bisher kaum erforscht»

Im Internet stiess ich auf jene Informationen, die man mir so viele Jahre verwehrt hatte. Doch ich bin Wissenschaftler: Für mich ist etwas erst eine Tatsache, wenn es bewiesen ist.

Zu meinem 70. Geburtstag ging ich zum Kinderarzt Primus Mullis ins Inselspital in Bern. Ich wusste, dass er mit intersexuellen Kindern zu tun hatte. Und tatsächlich: Nach einer kurzen Untersuchung stellte der Endokrinologe Emanuel Christ eine Diagnose. Er sagte mir, ich hätte einen Mikropenis und meine Harnröhre, die unterhalb der Penisspitze mündete, sei kurz nach meiner Geburt operiert worden. Tests ergaben, dass ich unter einer Fehlentwicklung der Keimdrüsen leide; sie verhinderte die Entwicklung meines Glieds.

Ein Sonderfall, bisher kaum erforscht. Umso grösser war das Interesse der Ärzte: Mein Erbgut wurde zu Forschungszwecken Mäusen in einem spanischen Labor eingepflanzt. Mich interessiert vor allem, ob der Defekt vererbbar ist. Die meisten Betroffenen sind unfruchtbar. Ich hatte Glück. Ein Hoden funktionierte. Ich habe einen Sohn. Er weiss bis heute nichts von meiner Besonderheit. Ich wollte ihn nicht mit Vermutungen verwirren, die sich dann allenfalls als falsch herausstellen. Nun, da ich weiss, was mit mir los ist, werde ich es ihm erzählen. Ich hatte ein schönes Leben. Doch wäre es schön gewesen, zu wissen, was ich bin und weshalb ich so bin.»

*Name geändert