Als ich mich kürzlich in letzter Minute und vor Anstrengung keuchend gerade noch in die sich unter lautem Piepsen schliessende Zugtür werfen konnte, wünschte ich mir nicht zum ersten Mal, die Uhr wäre niemals erfunden worden. Wie schön könnte das Leben sein, würde es nicht von diesem end- und gnadenlos tickenden Höllenrad in Sekunden, Minuten und Stunden zerhackt?

Das Beste an einer Abschaffung der Uhr wäre, dass uns morgens kein Wecker mehr aus dem Schlaf reissen würde. Wir würden aufwachen, weil wir ausgeruht wären, und nicht, weil unsere Arbeitsstelle es diktiert. Danach könnten wir, ganz nach Gusto, entweder langsam in den Tag starten (ich) oder direkt loslegen (andere). Wir würden essen, wenn wir hungrig, schlafen, wenn wir müde sind. Es wäre ein Leben, das sich nach unseren Bedürfnissen richtete, statt nach von aussen vorgegebenen Richtlinien.

So müsste dann auch nicht jeder Tag genau gleich lang sein. Auf ein paar Stunden mehr oder weniger käme es im Endeffekt nicht an – das würde sich über eine gewisse Zeit hinweg von allein ausgleichen. Die innere Uhr würde es richten. Wir würden nach Zyklen leben, wie die Natur es tut: im Winter mehr schlafen, im Sommer die langen Tage nutzen.

«Die besten Tage sind die, an denen man gar nicht auf die Uhr schaut.»

Lisa Christ

Natürlich würde das bedeuten, dass das meiste etwas länger dauert. Mails würden später beantwortet, weil Tagesabläufe individueller wären. Dinge würden später versandt. Treffen würden wir nach Sonnenstand ausmachen. Oder, wenn es bewölkt ist, sonst irgendwie.

Ich gebe zu, da gibt es noch Lücken in der Umsetzung. Aber grundsätzlich bin ich davon überzeugt, dass die Welt davon profitieren würde, wenn wir alle einen Gang herunterschalten würden. Die schrumpfende Wirtschaft würde im neoliberalen Kapitalismus natürlich ein Problem darstellen – aber Systeme sind menschengemacht und können verändert werden. Für den Planeten und unser Wohlbefinden wäre mehr Langsamkeit ganz sicher das Beste. Und vielleicht müssen wir dafür nicht mal die Uhr abschaffen, sondern vorerst nur unsere tüpflischiisserische Schweizer Überpünktlichkeit.

Eine Annäherung an eine etwas lockerere Handhabung der Uhrzeit finden wir weiter südlich: In Italien und Spanien ist Pünktlichkeit ein weit dehnbarerer Begriff als hierzulande. Nicht umsonst fahren wir genau dorthin in die Ferien, um vom ganzen Stress in heimischen Gefilden wegzukommen.

Stress, der grösstenteils davon verursacht wird, dass wir viele Sachen in wenig Zeit hineinpressen. Dabei sind die besten Tage die, an denen man gar nicht auf die Uhr schaut – weil man so sehr im Moment ist, dass die Zahl dazu sekundär wird.

Leider muss ich jetzt trotzdem aufhören mit Schreiben, mein Zug fährt gleich.

Zur Person
Lisa Christ