Aufgezeichnet von Anina Frischknecht:

Die schwangere Frau auf der Bahre, dahinter die Ruine eines Spitals in Mariupol: Das Bild ging um die Welt. Es hat sich in meinen Kopf eingebrannt. Ein Leben, das noch nicht einmal geboren ist, mitten in seiner zerstörten Zukunft.

Selten wurde ein Konflikt so gut dokumentiert wie der Krieg in der Ukraine. Sobald ich meinen Computer einschalte, erscheinen Bilder von Leid und Ohnmacht. Die ganze ungefilterte und brutale Realität eines Krieges. Mein Job in meinem Büro in Bern ist es, aus dieser Flut von Aufnahmen jene auszuwählen, die besonders stark von dem erzählen, was dem Land, den Leuten gerade passiert.

Die ersten Bilder, die mir aufgefallen sind, waren die Aufnahmen der Schutzsuchenden in den U-Bahn-Schächten in Kiew. Den Schrecken und den Unglauben in den Gesichtern vergisst man nicht so schnell. Seitdem prägt die Ukraine meine Arbeitstage.

Sich selbst sehen

Der Anblick der Toten ist schwer zu ertragen, aber das Leid der Lebenden manchmal noch weniger. Die Bilder der alten Menschen, die aus dem Dorf flüchten müssen, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht haben. Oder die Fotos von Kindern im Zug Richtung Westen Tagebuch einer Flucht – Teil 1 «Man rennt, bis man keine Kraft mehr hat» . In ihren Gesichtern sehe ich mich selber wieder. Ich war fünf, als meine Familie und ich vor den Auswirkungen des Prager Frühlings aus der Tschechoslowakei flüchteten. Dank meiner eigenen Geschichte kann ich mir besser vorstellen, was es heisst, wenn man mit einem Koffer für die ganze Familie fluchtartig das Land verlassen muss und keine Ahnung hat, was die Zukunft bringt.

Als Bildprofi muss ich aber meine Gefühle ausblenden. Ein gutes Bild ist ein gutes Bild. Ob von einer Pressekonferenz oder vom Krieg. Und doch müssen mich Bilder auch berühren können. Sie sorgen dafür, dass das Schicksal der zivilen Bevölkerung nicht vergessen geht, und regen aktiv Hilfe an. Ich glaube, es war Selenski, der sagte: Sobald sich niemand mehr für den Krieg interessiert, haben wir verloren.

«Den Schrecken und den Unglauben in den Gesichtern vergisst man nicht so schnell.»

Tomas Kadlcik, 59, Bildredaktor

Deshalb nutzt die ukrainische Regierung auch jede Gelegenheit, der Weltöffentlichkeit zu zeigen, was gerade passiert. Organisierte etwa ganze Pressereisen nach Butscha, jenem Ort mit den vielen zivilen Opfern. Ein Bild dieser Reise zeigt dann auch, wie ein Tross von etwa 20 Presseleuten um Leichensäcke herumsteht, die Kameras gezückt. Das hat natürlich einen Beigeschmack.

Nur ein Teil der Wahrheit

Die Todesopfer sind echt, das Leid ist es auch. Und die russischen Soldaten waren die Täter. Aber die Wahrheit wurde ein Stück weit hergerichtet, im Bemühen um eine Aufnahme, die die Leute im Westen bewegt. Es ist deshalb wichtig, zu wissen, dass ein Bild allein nur einen Teil der Wahrheit zeigt. Ich als Fotoredaktor muss die Grenzen zwischen Inszenierung und Propaganda festmachen können.

Meine Kolleginnen und ich haben viel über die Bildserien diskutiert, die uns ein russischer Fotograf regelmässig liefert. Er ist einer der wenigen, die den Krieg von der russischen Seite aus dokumentieren. Seine Bilder zeigen dann auch keine Kampfhandlungen, sondern russische Soldaten, die Brot an die ukrainische Bevölkerung verteilen. Beide Seiten des Konflikts nutzen Bilder für ihre Zwecke. Davor darf man die Augen nicht verschliessen. Und es ist extrem wichtig, beide Seiten zu zeigen.

Was wir nie an die Medien weitergeben werden, sind manipulierte Bilder. Oder Bilder, die Todesopfer ausstellen. Aber bei aller gebotenen Zurückhaltung – eine gewisse Direktheit braucht es doch auch. Wenn bei einem Granateneinschlag 100 Menschen getötet werden, dann kann das nicht nur symbolisch mit einem umgestürzten Kinderwagen oder zerbrochenen Fensterscheiben gezeigt werden. Krieg ist grausam Sorgen um Ukraine «Wie mit diesen Gefühlen umgehen?» . Diesen Schrecken müssen die Bilder auch vermitteln können. Nur so bleibt das Bewusstsein für den Krieg wach. Nur so tun wir alles dafür, dass er bald endet.