Der Konflikt im Nahen Osten bewegt. Tausende Menschen in diversen europäischen Städten sind schon auf die Strasse gegangen. Sie demonstrieren gegen den Krieg im Allgemeinen oder bekunden ihre Solidarität, entweder mit Palästina oder Israel. Teilweise eskalierte die Situation. In den sozialen Netzwerken tauchen etwa Videos aus Berlin auf, wo es zu wüsten, tumultartigen Szenen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten kam. 

Auch in der Schweiz finden Kundgebungen statt – genau beobachtet von Schweizer Sicherheitsexperten. Sie beurteilen laufend, ob die Sicherheit für Veranstaltende, Demonstrationsteilnehmende, Passantinnen, Polizeiangehörige und Rettungskräfte gewährleistet ist. Die Stadt Zürich schätzte die Lage Mitte Oktober als zu heikel ein und verweigerte deshalb die Bewilligung für Kundgebungen im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt zwischen 18. und 22. Oktober.

Nach dieser Frist will das Sicherheitsdepartement über Gesuche neu entscheiden. Dies unter Berücksichtigung der aktuellen Sicherheitslage, in die auch Beurteilungen des Nachrichtendienstes des Bundes einfliessen.

Lausanne sieht bei Demos kein Problem

In Basel gilt von Freitag bis Sonntag ein generelles Demonstrationsverbot – auch eine angekündigte Kundgebung von Massnahmenkritikern darf nicht stattfinden.

Die Stadt Bern verbietet ebenfalls sämtliche Kundgebungen bis zum Sonntagabend. Grund ist hier, dass parallel mehrere sicherheitsrelevante Veranstaltungen stattfinden, wie Reto Nause erklärt: Neben einem Hochrisiko-Fussballspiel zwischen den Berner Young Boys und dem FC Zürich wird auch eine Lichtershow auf dem Bundesplatz stattfinden sowie ein Eishockey-Match zwischen dem SC Bern und den Rapperswil-Jona Lakers. «Die Stadt Bern ist dieses Wochenende voll», sagt Nause.

Zudem bietet das Stadtberner Kundgebungsreglement die Möglichkeit für Spontankundgebungen innerhalb von 48 Stunden nach einem Ereignis. Möglich sei also, dass am Sonntag im Nachgang zu den Wahlen noch Spontankundgebungen stattfinden. Nächste Woche sollen dann die Gesuche wieder nach dem üblichen Verfahren geprüft werden. Nause betont, dass die Stadt vergangenen Samstag bereits eine Pro-Palästina-Demonstration bewilligt hat.

Anders geht die Stadt Lausanne aktuell mit der Situation um: Dort fand am Donnerstagabend eine Pro-Palästina-Kundgebung mit rund 4500 Teilnehmerinnen und Teilnehmern statt. Bedenken zu Ausschreitungen habe man keine gehabt, sagte ein Sprecher der jungen Arbeiterpartei gegenüber SRF. Die Partei hatte die Demonstration organisiert.

Experten kritisieren Demoverbote

In die Beurteilung der aktuellen Sicherheitslage fliesst die erhöhte Gefahr für Terroranschläge ein. Im Nachgang zum Hamas-Überfall auf Israel kam es in Brüssel (Belgien) und Arras (Frankreich) zu islamistisch motivierten Anschlägen. Insgesamt drei Menschen starben, vier Personen wurden verletzt. Verschiedene Länder haben in der Folge ihre Sicherheitsvorkehrungen intensiviert.

Dass aber Demonstrationen so rigoros verboten werden, wird von Staatsrechtsexpertinnen und -experten scharf kritisiert. Helen Keller, Professorin am Institut für Völkerrecht und ausländisches Verfassungsrecht der Universität Zürich, sagte gegenüber «20 Minuten», der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe festgehalten, dass ein generelles Verbot von Versammlungen nur in Ausnahmefällen genehmigt werden darf. «Die Behörden sind ausserdem verpflichtet, eine klare Begründung anzugeben, wieso ein weitreichendes Verbot ausgesprochen wird.»

Das Recht auf freie Meinungsäusserung und die Versammlungsfreiheit sind als Grundrechte in der Bundesverfassung verankert Grundrechte Wie viel Macht hat der Staat? . Der Staat darf diese Rechte nur einschränken, wenn ein überwiegendes öffentliches Interesse besteht. Beispielsweise wenn eine Notlage vorliegt und deshalb die Sicherheit nicht mehr gewährleistet werden kann.

Aber die Behörden müssen eine nachvollziehbare Begründung für die Einschränkung kommunizieren, und die gewählte Massnahme muss verhältnismässig sein. Das bedeutet, dass die Behörden immer die mildeste Variante wählen müssen. So könnten sie Auflagen zur maximal zulässigen Teilnehmerzahl machen oder auch örtliche Begrenzungen festlegen, innerhalb deren die Kundgebung stattfinden muss. 

Bundesgericht rügte Kanton Bern

Schon in der Corona-Pandemie sorgte die Frage für Diskussionen, ob die damaligen Kundgebungsverbote rechtens waren. Im Nachhinein kamen verschiedene Gerichte zum Schluss, dass die getroffenen Massnahmen teilweise nicht verhältnismässig waren. Etwa im Kanton Bern. Der Regierungsrat legte damals fest, dass Versammlungen für Gruppen von über 15 Personen zwischen November 2020 und Mai 2021 verboten sind.

Dabei hatte die Berner Regierung die Sicherheitslage für alle Versammlungen gleich beurteilt – unabhängig davon, ob sie draussen oder drinnen stattfanden. Auch politische Kundgebungen waren vom Verbot betroffen. Das Bundesgericht kam später zum Schluss Verletzung von Grundrechten Wer kann die Behörden rascher bremsen? : Das war unverhältnismässig. Kundgebungen seien elementar für die Meinungsbildung, und man müsse daher differenzieren. Bei Demonstrationen hätte der Regierungsrat daher auch keine Begrenzung der teilnehmenden Personen festsetzen, sondern nur eine Maskenpflicht anordnen dürfen (Bundesgericht, Urteil vom 3. September 2021, 2C_308/2021).

Wer übrigens ohne Kundgebungsbewilligung demonstriert, riskiert eine Busse wegen Ungehorsam gegenüber behördlichen Anordnungen. Kommt es bei einer solch unbewilligten Veranstaltung zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, können Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Demo wegen Landfriedensbruch angezeigt werden, es drohen Freiheitsstrafen von bis zu drei Jahren.

Unzulässige Demo-Verbote während Corona