Beobachter: Warum ist das Downsyndrom für viele werdende Eltern ein Schreckgespenst, wo es viel schlimmere Behinderungen gibt?
Wolfram Henn: Das ist völlig richtig: Das Downsyndrom ist bei weitem nicht die schwerwiegendste Behinderung, die ein Kind treffen kann. Tatsächlich können die meisten Menschen mit Downsyndrom und ihre Familien ein erfülltes Leben führen. Menschen mit Downsyndrom lernen dank früher Förderung sehr vieles, auch Lesen und Schreiben.

Beobachter: Warum dann die Angst?
Henn: Weil das Downsyndrom recht häufig auftritt und äusserlich meist gut erkennbar ist. Dadurch ist es zum «Musterbeispiel» für angeborene Behinderungen geworden. Es ist zudem vorgeburtlich erkennbar und meist das Exempel, anhand dessen in ärztlichen Beratungen die Pränataldiagnostik erklärt wird.

Beobachter: Was müsste sich ändern?
Henn: Akzeptanz lässt sich nicht verordnen, sie muss sich entwickeln. Wir Ärzte müssen selbstkritischer mit jenen Beispielen umgehen, die wir in Beratungsgesprächen aufführen.

Beobachter: Und im Alltag?
Henn: Wir müssen Familien, die ein Kind mit Downsyndrom haben, ermutigen, in aller Selbstverständlichkeit am öffentlichen Leben teilzunehmen. Die Gesellschaft soll mehr Offenheit im Umgang mit dem Anderssein lernen. Am besten beginnt das früh: Es gibt keinen Grund, warum Kinder mit Downsyndrom nicht den normalen Kindergarten besuchen.

Beobachter: Bald werden Föten flächendeckend auf Trisomie 21 getestet. Was bedeutet das?
Henn: Ich glaube nicht, dass wir schon so weit sind. Wäre dem so, würden nur noch wenige Kinder mit Downsyndrom geboren. Und wer sich dem Test aus persönlichen Gründen verweigert, kommt unter zunehmenden Rechtfertigungsdruck.

Beobachter: Womit müssen Paare rechnen, die sich für ein Kind mit Trisomie 21 entscheiden?
Henn: Schon heute bekommen Familien mit einem Downsyndrom-Kind erschreckend oft zu hören, im Zeitalter vorgeburtlicher Untersuchungen «müsse so etwas nicht mehr sein». Diese ungute gesellschaftliche Tendenz wird sich, fürchte ich, verstärken. Deshalb müssen wir aktiv gegen Ausgrenzung vorgehen, das beginnt im privat-nachbarschaftlichen Umgang. Und auf politischer Ebene sollten wir uns dafür einsetzen, dass es mehr Ressourcen für integrative Bildung gibt.

Beobachter: Was raten Sie Müttern und Vätern eines Kindes mit Trisomie 21?
Henn: Offen mit ihrem Kind und der Umgebung umzugehen. Gerade Nachbarn reagieren auf die anfängliche Unsicherheit der Eltern mit vorsichtiger, aber eigentlich gutwilliger Distanz, was Eltern als Zurückweisung missverstehen.

Beobachter: Wie geht man mit negativen Reaktionen um?
Henn: Dumme Sprüche sollte man ignorieren oder, falls das nicht geht, die Leute fragen, welche praktischen Konsequenzen sie aus ihrer Ablehnung ziehen oder ob sie auch so reden würden, wenn sie selbst oder ihre besten Freunde ein Kind mit Downsyndrom bekämen.

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Quelle: Marco Zanoni

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