«Manchmal war es nicht leicht, die Blicke auszuhalten», sagt Stephanie Stoll. Es sei oft nach dem gleichen Muster abgelaufen: ein Blick in den Kinderwagen, ein Blick zu ihr, nochmals ein Blick in den Kinderwagen. Und dann las sie in den Augen des Gegenübers eine Mischung aus Mitleid und Unverständnis. «Dabei hätte ich ihnen jeweils am liebsten zugerufen: ‹Das ist Levin, mein Kind, ich liebe ihn, ihm geht es gut, uns geht es gut.›»

Heute ist Levin sechs Jahre alt. Er wohnt mit seinen Eltern und den drei Brüdern in einem Haus im Grünen, unweit von Solothurn. Er steht im hellen, grossen Wohnzimmer und schaut zu, wie der Fotograf seine Ausrüstung aufbaut, um Familie Schär-Stoll zu porträtieren. Manuel, acht, hat es sich mit dem iPhone auf dem Sofa bequem gemacht. Julian, knapp drei, hantiert in der Spielzeugküche. Elia, zehn Monate, räumt Spielsachen aus.

Und Levin verschwindet plötzlich. Zurück kommt er mit der grossen Digitalkamera seines Papas um den Hals. Dann knipst er in schnellerem Takt als der Profifotograf. Scheint ihm eine Aufnahme gelungen, stupst er die Besucherin am Arm und zeigt das Foto auf dem kleinen Bildschirm.

Fotografieren macht Levin grossen Spass. Auch Unihockey spielen oder mit dem Trottinett auf der kaum befahrenen Strasse vor dem Einfamilienhaus herumflitzen gehört zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Oder Mama beim Kochen helfen, «Barbapapa»-Filme schauen, mit Manuel Ball oder Verkäuferlis spielen.

Levin ist mit Downsyndrom zur Welt gekommen. Statt zweimal kommt das 21. Chromosom bei ihm dreimal vor, weshalb die Genveränderung auch Trisomie 21 heisst. An die Blicke hat Stephanie Stoll, 38, sich inzwischen einigermassen gewöhnt. An etwas anderes kann sie sich nicht gewöhnen: In den letzten Monaten war viel von einem neuen vorgeburtlichen Test die Rede, mit dem Ärzte im Blut einer Schwangeren nachweisen können, ob ihr Kind Trisomie 21 in sich trägt. Ähnliche Tests gibt es bereits, doch die bisherigen sind weniger zuverlässig oder wie die Fruchtwasserpunktion für das Baby mit einem Risiko verbunden. Experten vermuten, dass noch viel mehr Paare sich für den neuen Test entscheiden. Neun von zehn Frauen, die durch den pränatalen Test erfahren, ihr Kind habe Downsyndrom, treiben es ab.

«Mir tut das weh», sagt Stephanie Stoll. «Es darf nicht sein, dass eine ganze Gruppe Menschen kein Recht mehr hat zu leben.» – «Und was bedeutet diese Entwicklung für unser Leben mit Levin?», fragt sich Papa Martin Schär, 39. Wenn sich künftig Krankenkassen und Versicherungen weigern würden, für Menschen mit Downsyndrom zu zahlen – «und wir uns beinahe für unser Kind rechtfertigen müssen»?

Die Schwangerschaft verlief problemlos

Die Schär-Stolls können nicht verstehen, warum ausgerechnet das Downsyndrom als Schreckgespenst gilt. Zwar haben viele betroffene Kinder gewisse gesundheitliche Probleme. Viele – oftmals schwerere – Behinderungen entstehen jedoch während der Geburt, durch Sauerstoffmangel. Kein Test kann das erfassen oder voraussehen. «Mit dem neuen Bluttest auf Trisomie 21 wird die Meinung, dass ein Leben mit Downsyndrom unzumutbar und nicht lebenswert sei, noch verstärkt», sagt Stephanie Stoll.

«Weil das Downsyndrom relativ bekannt ist, dient es als Projektionsfläche für Ängste und Vorurteile», erläutert Humangenetiker Wolfram Henn, der in der Ethikkommission der deutschen Bundesärztekammer sitzt und die psychosozialen Aspekte des Downsyndroms erforscht. «Dabei wissen die meisten Menschen wenig über die Potentiale und Probleme von Menschen mit Trisomie 21» (siehe Interview mit Wolfram Henn).

Stephanie Stolls Schwangerschaft mit Levin verlief ohne Komplikationen. Beim Ultraschall in der 36. Schwangerschaftswoche stellten die Ärzte aber fest, dass das Baby Probleme mit dem Magen habe. Weil die Schwangere nicht mehr genug Fruchtwasser hatte, kam Levin in der 36. Woche per Kaiserschnitt zur Welt. Die Diagnose Downsyndrom wurde der Familie kurz nach der Geburt mitgeteilt.

«Natürlich erschrickt man zuerst und fragt sich, was das heisst», sagt Martin Schär. Er sei anschliessend mit Levin auf dem Arm durch die Spitalgänge gelaufen. «Ich habe ihn angeschaut – und plötzlich gewusst: Es wird alles gut kommen.» Schär wirkt, als bringe ihn ohnehin nichts so schnell aus der Fassung. So mancher Besuch im Spital sei in den ersten Tagen seltsam abgelaufen. «Die Leute wussten nicht, ob sie uns gratulieren dürfen», sagt Stephanie Stoll. Sie habe beinahe das Gefühl gehabt, die anderen trösten zu müssen. Freunde und Familie seien jedoch eine grosse Stütze. Levin hat ein sehr enges Verhältnis zu seinen Grosseltern, übernachtet einmal pro Woche bei ihnen.

Als Kleinkind hatte es Levin schwer

In den ersten Lebenstagen kämpfte der Junge mit einem Darmverschluss und einem Herzfehler. Beides kommt bei Kindern mit Trisomie 21 gehäuft vor. Weil Levin recht kräftig war, konnte die Herzoperation verschoben werden, bis der Bub sechs Monate zählte. «Die ersten drei Jahre waren zeitintensiv», sagt Martin Schär. Es gab zahlreiche Kontrolluntersuchungen, Abklärungen zu Augen und Gehör, Physiotherapie- und Spitaltermine. Eine Mittelohrentzündung nach der anderen plagte den Jungen. Heute geht es Levin gut, doch wenn er oder irgendjemand sich wehtut, sagt er gleich «Spital», denn dass man dort hingeht, ist ihm vertraut.

Aber jetzt will er dem Papa helfen, Holz zu holen, auch das eine seiner Lieblingsbeschäftigungen. Das Haus hat eine Holzheizung, die gefüttert werden will. Levin schiebt ein Wägelchen vom Abstellraum durch die Garage zum Holzlager, wo Papa die Scheiter vom hohen Stapel nimmt und Levin gibt, der sie in den Wagen plumpsen lässt. Zurück im Haus, sagt der Bub «komm», nimmt die Besucherin bei der Hand, um gemeinsam die Treppe hochzugehen.

Warum nicht im «normalen» Chindsgi?

«Levin hat etwas mehr als wir, nicht etwas weniger», sagt seine Mama – und spielt nicht nur auf die zusätzlichen Chromosomen an. «Er zeigt uns mit seiner herzlichen und direkten Art immer wieder, was eigentlich wichtig ist.» Und tue er etwas, dann mit vollem Einsatz, ergänzt sein Papa.

Natürlich gebe es viele Momente, die anstrengend seien. Als Levin den Tisch für die Familie und den Besuch deckt, wird ihm plötzlich zu viel, dass alle ihn beobachten. Energisch fegt er das Besteck vom Tisch. Seine Mama sammelt es geduldig wieder auf, und gemeinsam starten sie einen zweiten Versuch. Ihren Beruf als Kindergärtnerin hat Stephanie Stoll im Moment auf Eis gelegt. Ihre Tage sind randvoll damit, sich um die vier Buben und den Haushalt zu kümmern. Ihr Mann arbeitet als Finanzanalyst bei den SBB. Levin besucht den Kindergarten in einer heilpädagogischen Schule. «Wir hätten ihn gerne in den öffentlichen Kindergarten geschickt», sagt der Papa, «aber wir hatten dann doch das Gefühl, die Schule sei geeigneter.» Was der Bub an diesem kalten Tag nicht zeigen kann, ist seine Leidenschaft für Wasser. «Er ist eine Wasserratte. Liebt es zu tauchen, zu schwimmen, zu planschen.» Wasser gebe ihm Leichtigkeit, sagt der Papa.

Bei Menschen mit Downsyndrom ist das 21. Chromosom meist in allen Körperzellen dreifach vorhanden und sorgt für Aufruhr: Die motorische Entwicklung ist verzögert. Dank Physiotherapie in den ersten Lebensjahren bewegt sich Levin weitgehend sicher. Bei der sprachlichen Entwicklung aber benötigt er Hilfe. Ganze Sätze spricht der Sechsjährige noch keine, und manches Wort, das er artikuliert, muss von seinen Eltern für den Besuch übersetzt werden.

Erstmals beschrieben wurde die Genveränderung 1866 vom britischen Arzt John Langdon-Down. Damals steckte man Kinder mit Trisomie 21 ins Heim. Heute haben sie – auch dank der frühen Förderung – bessere Chancen.

In der Schweiz kommen im Jahr 50 bis 85 Kinder mit Downsyndrom zur Welt. Statistisch gesehen müssten es mehr sein, da immer mehr Frauen mit 35 oder älter gebären. Ist die Mutter 25 Jahre alt, beträgt die Wahrscheinlichkeit, ein Kind mit Trisomie 21 zur Welt zu bringen, 1 zu 1000. Im Alter von 35 Jahren steigt diese Zahl auf 3 von 1000, mit 40 auf 1 von 100 und mit 45 auf 5 von 100. Eine Studie aus Dänemark wies kürzlich nach, dass sich die Anzahl der Kinder mit Downsyndrom dort halbiert hat, wo sich vorgeburtliche Tests durchgesetzt haben.

«Ich verstehe gut, dass eine Frau den Test will», sagt Stephanie Stoll. Viele Paare würden jedoch im Vorfeld zu wenig überlegen, was ein solcher Test bedeute. Auch sie erwog bei ihrem dritten Kind, Julian, eine Fruchtwasserpunktion. «Ich hätte niemals abgetrieben, aber ich wollte vorbereitet sein.» Als sie das Baby auf dem Ultraschall sah, war sie beruhigt – und sagte den Termin für die Punktion ab.