Droht bei einem Ja zur AHV 21 bald das Rentenalter 67? Das zumindest behauptet die SP. Und wird mit dem Argument in den Abstimmungskampf ziehen. «Die AHV-Abstimmung ist ein erster Schritt in Richtung einer weiteren Erhöhung des Rentenalters. Die Pläne der Bürgerlichen liegen mit der Renteninitiative schon auf dem Tisch», sagt SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer. «Wir wehren uns gegen dieses Einfallstor einer weiteren Erhöhung des Rentenalters. Darum versuchen wir das jetzt schon mit einem Nein zu stoppen.»

Dieses Einfallstor gibt es nicht, sagen Politikwissenschaftlerin Silja Häusermann und Politgeograf Michael Hermann übereinstimmend.

«Das ist vor allem ein strategisches Argument, um die Leute zu überzeugen, Nein zu stimmen», sagt Häusermann. «Viele Umfragen zeigen, dass eine Erhöhung über 65 hinaus nicht mehrheitsfähig ist.» Die Angleichung des Frauenrentenalters hingegen sei weitaus weniger kontrovers. Das liege daran, dass gemäss Umfragen viele linke Männer, vor allem in der Deutschschweiz, nicht so strikt dagegen zu sein scheinen.

Auch Hermann widerspricht der SP: «Jeder einzelne Reformschritt in der Altersvorsorge ist mühsam. Selbst wenn es Ende September zu einem Ja kommen sollte, heisst das nicht, dass sich irgendeine andere Hürde leichter überspringen lässt.»

Ein Kampf um die Macht

Die symbolische Überhöhung der Vorlage lässt erahnen, dass es am 25. September um mehr geht als um die Frage, ob die Frauen ein Jahr länger arbeiten sollen. Es geht auch um Machtpolitik.

Die SP hat seit über zwanzig Jahren keine Volksabstimmung um die Altersvorsorge mehr verloren. Jeden ungeliebten bürgerlichen Kompromiss im Parlament brachte sie vors Volk – und bodigte den aus ihrer Sicht ungerechtfertigten Rentenabbau. Die SP habe sich damit eine Vetomacht erarbeitet, die schon fast zur «Raison d’être» geworden sei, sagt Politgeograf Hermann.

Denn der Partei hafte seit längerem ein Verlierer-Image an, wichtige Wahlen seien verloren gegangen. Mit Referenden dagegen könne sie im Parlament ihre Macht behaupten. Der bürgerlichen Seite mache sie klar, dass diese bei der Altersvorsorge und bei Steuerfragen nicht an ihr vorbeikomme.

Diese Vetomacht ist nun in Gefahr. Ersten Umfragen zufolge ist der Ausgang der Abstimmung zumindest offen.

Über diese machtpolitische Dimension der Abstimmung spricht SP-Co-Präsidentin Meyer nicht gern. Viel lieber betont sie, dass sich ihre Partei gegen Rentenabbau einsetze und deshalb das Referendum ergriffen habe. «Für viele Menschen ist die AHV die wichtigste Stütze der Altersvorsorge. Wir wollen sie stärken und wehren uns gegen Verschlechterungen. Wenn die Rechten daraus eine Machtfrage machen, ist das ihr Ding. Uns geht es um die Sache.»

Von bürgerlicher Seite hört man, dies sei eine einmalige Chance, die Vetomacht der SP zu brechen. Die Bürgerlichen könnten dann argumentieren, die Bevölkerung sei bereit, auch einen Rentenabbau zu akzeptieren. Bei einer Ablehnung der AHV 21 aber droht ihnen eine «totale Ratlosigkeit», so Hermann. Sie würden sich dann die Frage stellen: Wenn nicht einmal diese Vorlage mehrheitsfähig ist, was dann? Der Politgeograf befürchtet in diesem Fall eine noch stärkere Blockade als heute.

Es geht also um die Frage: Behalten Parlament und Bundesrat eine begrenzte Handlungsfähigkeit, um die Altersvorsorge zu reformieren?

Die beiden letzten erfolgreichen Reformen liegen über zwanzig Jahre zurück. (siehe nachfolgende Chronologie) Damals einigte sich das Parlament auf einen Kompromiss, der von Mitte SP bis Mitte FDP getragen wurde. Es gab kein Referendum.

Chronologie: Erfolgreiche und gescheiterte AHV- und PK-Vorlagen der letzten 25 Jahre

Polarisierung nimmt zu

Kompromisse in der Altersvorsorge seien damals auch inhaltlich einfacher zu verkaufen gewesen, sagt Hermann. Bis Ende der 1990er- Jahre habe man keine Abbauvorlagen gehabt. «Solange man die Sozialwerke auf- und ausgebaut hat, konnte man Mehrheiten finden. Sobald man sich auf das Sparen fokussierte, wurden Lösungen schwieriger.» Das Problem sei auch, dass die Altersvorsorge die ganze Bevölkerung betrifft. Bei der IV oder der Sozialhilfe etwa seien Abbaureformen einfacher, weil eine Mehrheit das Gefühl habe, es betreffe sie nicht.

Seither hat sich laut Häusermann das Schweizer Parteiensystem stark polarisiert. Das wirke sich auf alle Politikbereiche aus. Auch in der Europa- und der Klimapolitik gebe es verhärtete Fronten. Selbst Sachfragen, die in der Bevölkerung eigentlich mehrheitsfähig wären, würden parteipolitisch aufgeladen und mit Referenden bekämpft. Das mache Reformen schwierig.

Häusermann sieht drei mögliche Szenarien für die politische Zukunft der Altersvorsorge:

  • die Verhandlungsmasse erweitern;
  • stärkerer Wille zum politischen Kompromiss;
  • die Schweiz arrangiert sich mit Reformblockaden.

Bei der AHV gebe es das «Problem», dass frauenspezifische Nachteile mit der letzten gelungenen Revision vor 25 Jahren mehrheitlich behoben wurden. Jetzt habe man in der AHV kaum noch Hebel, um frauenspezifische Vorteile einzubauen. Bundesrat Alain Berset hat deshalb bei der letzten grossen Reformvorlage, der Altersvorsorge 2020, die zweite Säule dazugenommen, weil es da noch Verbesserungspotenzial gibt.

Die SP unterstützte damals ihren Bundesrat – obwohl die Vorlage sowohl die Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 enthielt als auch die Senkung des Umwandlungssatzes in der zweiten Säule –, weil die Vorlage im Gegenzug Verbesserungen in beiden Säulen vorsah. Da nun erste und zweite Säule aufgeschnürt und separat verhandelt werden, sei ein Kompromiss schwieriger geworden, sagt Häusermann.

Düstere Aussichten

Sowieso sieht die Politikwissenschaftlerin wenig Kompromissbereitschaft bei den Parteien. Das werde sich auf absehbare Zeit auch nicht ändern. Kompromissbereit sei auf bürgerlicher Seite noch der Arbeitgeberverband, sagt Häusermann. Dieser verliere aber im eigenen Lager an Rückhalt. Exemplarisch zeigte sich das am sogenannten Sozialpartnerkompromiss in der zweiten Säule, der von Arbeitgebern und Gewerkschaften ausgehandelt worden war und dann im Parlament zerpflückt wurde.

Wenn alle Reformen scheitern, tritt das dritte Szenario ein: Es bleibt einfach so, wie es ist. «Es gibt viele Rentensysteme in Europa, die in den roten Zahlen sind», sagt Häusermann. Man könne dann die Beiträge erhöhen, Schulden machen oder über andere Mittel das System füttern. «Das ist alles nicht nachhaltig und nicht systemtreu, aber es ist machbar.» Die Wissenschaftlerin hat den Eindruck, dass sich die Schweiz zurzeit damit arrangiert, «dass sich die Nicht-Lösung verfestigt».

Abstimmung AHV 21

Die wichtigsten Punkte der AHV-Reform, die am 25. September vors Volk kommt:

  • Rentenalter 65 für alle in der ersten und der zweiten Säule. Ein Jahr nach Inkrafttreten der Reform steigt das Rentenalter der Frauen in vier Schritten à drei Monate an.
     
  • Lebenslange Ausgleichszahlungen für die ersten neun Jahrgänge (1961 bis 1969, wenn die Reform 2024 in Kraft tritt). Frauen, die ihre Rente nicht vorbeziehen, erhalten einen Zuschlag von 12 bis 160 Franken pro Monat. Er ist umso höher, je kleiner die Rente ist. Gehen Frauen dieser Jahrgänge mit 64 in Rente, wird ihre Rente weniger gekürzt als üblich, bei kleinem Einkommen gar nicht.
     
  • Rentenbezug wird flexibel. Männer und Frauen können zwischen 63 und 70 Jahren ganz oder teilweise in Pension gehen. Wer nach 65 arbeitet, kann mit den AHV-Beiträgen anders als bisher die Rente aufbessern oder Beitragslücken schliessen.
     
  • Die Mehrwertsteuer steigt mit einer getrennten Vorlage auf 8,1 Prozent – wenn auch die AHV-Vorlage angenommen wird. Umgekehrt tritt diese nur in Kraft, wenn auch die Erhöhung der Mehrwertsteuer beschlossen wird.

Jetzt folgen, um über neue Beobachter+-Artikel per E-Mail informiert zu werden

Buchtipp
Mit der Pensionierung rechnen
Mit der Pensionierung rechnen