Wir alle spüren die Spannungen in der Politik, in der Arbeitswelt, im globalen Finanzsystem und in der Gesellschaft. Wir spüren, dass grosse Veränderungen und Umbrüche anstehen, die uns alle betreffen werden.

Deshalb verschärft sich der Diskurs auf allen Ebenen. In Europa sind die Gräben trotz aller gegenteiligen Bemühungen in den letzten Jahren eher grösser als kleiner geworden. Beispiele dafür liefern die desaströsen Finanzhaushalte einzelner gewichtiger Staaten wie Italien. Ebenso die Flüchtlingsproblematik, auf deren Herausforderungen Brüssel bisher keine Antwort gefunden hat. Aber auch das EU-Dogma der uneingeschränkten Personenfreizügigkeit ist ein Spaltpilz für einzelne Staaten und für die Gemeinschaft, wie das Gezerre um den Brexit belegt. Andererseits leiden Staaten wie Rumänien unter einem Brain Drain, also unter der Abwanderung gut ausgebildeter Leute in Länder mit deutlich höherem Lohnniveau, während Rentner aus Deutschland für den zahlbaren Lebensabend in günstigere Länder abwandern.

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Den grossen Parteien, die lange Jahre die Geschicke der Länder bestimmten, scheinen taugliche Lösungsrezepte für die Zukunft abhanden gekommen zu sein.

Die Menschen sehen sich im EU-Raum vor allem als hochmobile Wirtschaftsfaktoren geschätzt, während sie sich bei ihren konkreten Problemen kaum noch abgeholt fühlen. Auch deshalb finden Basisbewegungen wie «Fridays for Future» vorab bei den Jungen Zuspruch. Sie fordern zu Recht eine dringend nötige ökologischere, zukunftsweisendere und auch fairere Wirtschaft, die auf geschundene Länder ebenso Rücksicht nehmen soll wie auf alle Bedürfnisse im eigenen Land. Immer ungeduldiger skizziert wird die Vision einer gerechten Gesellschaft Frauenstreik 5 Frauen erzählen, warum sie genug haben , in der jede und jeder seine Talente im Beruf optimal einsetzen und seine privaten Wünsche gleichzeitig möglichst frei realisieren kann.

Jedes Ding hat seinen Preis

Man mag dies für ein utopisches Ziel halten. Dennoch müssen wir uns damit befassen, unser Wirken auf dem Planeten grundsätzlich zu hinterfragen. Doch mit unseren individuellen Anspruchshaltungen in den Wohlfahrtsstaaten des Westens verkennen wir eine wesentliche Wahrheit: Jedes Ding hat seinen Preis. Und je höher der Lebensstandard in einer Gesellschaft oder in einem bestimmten Land bereits ist, desto höher fällt dieser Preis aus. Deshalb müssen wir dringend über diesen Preis reden. 

Exemplarisch dafür steht in der Schweiz die Diskussion um das Rahmenabkommen (InstA) EU-Rahmenvertrag Darum streitet die Schweiz mit der EU mit der EU. Die EU sieht im Abkommen die Möglichkeit, die Schweiz endlich auf Linie zu zwingen und deren Sonderstellung in der Mitte Europas zu beenden. 

Die Befürworter argumentieren, die Schweiz müsse zwingend einlenken und das Abkommen unterzeichnen, um die indirekt damit verschränkten bilateralen Verträge nicht zu riskieren und die Geschäfte mit unserem wichtigsten Handelspartner im Interesse unseres Wohlstands ja nicht zu gefährden. Die Gegner verweisen auf einen ungenügenden Schutz vor Dumpinglöhnen Tatort Baustelle Lohndumping am Laufmeter und auf drohende Einschränkungen in unseren demokratischen Entscheiden.  

Ein für beide Seiten tragbarer Kompromiss – des Schweizers liebste Lösung – scheint kaum in Sicht zu sein. Zwar soll es Spielraum für Präzisierungen geben, aber von Nachverhandlungen will die EU nichts wissen. Der Vertrag liegt auf dem Tisch, und in den wesentlichen Punkten wird Brüssel nicht davon abrücken. Denn auch die EU weiss, dass stürmische Zeiten im Anzug sind. Sie will nicht zulassen, von ihren Zielen einer «immer engeren Union» abzurücken.

Wie hast Du's mit der EU?

So lautet die Gretchenfrage, um die es wirklich geht: Wie hast Du’s mit der EU? Wie stehen wir für die Zukunft besser da? Eng an die EU gekoppelt oder nur so leicht wie nötig liiert?

Wir hoffen noch immer, irgendwie davonzukommen und mehr oder minder so weitermachen zu können wie bisher. Doch wir sollten ehrlich sein: Wir werden auf absehbare Zeit hinaus konfrontiert sein mit harten Verteilkämpfen im zwischenstaatlichen, aber auch im gesellschaftlichen Bereich. Vor diesem Hintergrund müssen wir auch den Entscheid übers InstA-Abkommen treffen.

Wir haben zwei Optionen. Sagen wir Ja zum Vertrag, helfen wir unseren Export- und Importfirmen. Der ganzen Wirtschaft soll der Entscheid wichtige Sicherheiten geben, den gewohnten Handel möglichst ungehindert weiterzuführen. Die Zuwanderung wird aller Wahrscheinlichkeit nach jedoch sehr hoch, mindestens aber komplett unkalkulierbar bleiben – mit allen positiven wie negativen Konsequenzen. Unsere politischen Handlungsfreiheiten werden begrenzt, und der Siedlungs- und Infrastrukturdruck Zersiedelung Wie die Schweiz zubetoniert wird – und was dagegen hilft mit seinen hohen Kostenfolgen wird weiterhin zunehmen. Zudem droht mittelfristig eine Einwanderung in unser (noch) einigermassen robustes Sozialsystem.

Sagen wir Nein zum Vertrag, werden wir mit ebenso hoher Wahrscheinlichkeit einen wirtschaftlichen Einbruch zu verdauen haben. Es drohen Handelshemmnisse, Firmenabwanderungen, Stellenverluste, internationaler Reputationsschaden. Andererseits dürfte der Siedlungsdruck abnehmen, der Verkehr Verstopfte Strassen und überfüllte Züge Der Verkehrskollaps droht besser zu bewältigen sein, der politische Gestaltungsraum für die Schweiz deutlich grösser bleiben, was auch zukunftsweisende Projekte in Eigenregie ermöglicht.

Gruppenwanderung oder Solopfad?

Beide Varianten haben also einen hohen Preis. Es ist der Preis für den Wandel, der auf globaler Ebene in jeder Hinsicht bevorsteht. Der bequeme Weg, wie wir ihn in den letzten Jahren gewohnt waren, kommt an eine Gabelung. Wir haben die Wahl, uns einer Wandergruppe anzuschliessen oder den Solopfad zu nehmen. 

Der Weg in der Wandergruppe scheint der vermeintlich leichtere zu sein. Er dürfte uns noch etwas mehr Zeit verschaffen, bis der härtere Teil kommt. Doch die Rechnung für unser quantitatives Wachstum zeichnet sich bereits ab, auf sozialer Ebene, und – am deutlichsten sichtbar – in unserer Umwelt Klimawandel Warum handeln wir nicht? . Wenn wir keinen Steuerungsmechanismus für das Bevölkerungswachstum verankern können, verbauen wir uns sprichwörtlich die Zukunft.

Der andere, der Soloweg wird uns sofort herausfordern. Die Exportwirtschaft China auf dem Vormarsch Die Schweiz in den Fängen des Drachen wird stöhnen, wir werden Sparprogramme sehen, soziale Ausbauwünsche streichen und unsere eigene Wettbewerbsfähigkeit verbessern müssen. Der Immobilienboom dürfte jedoch gebremst werden, die Preise könnten ins Rutschen geraten, was Mietern entgegenkommt, aber Eigentümer belasten würde. 

Die Hoffnung und die Chance des Solowegs besteht darin, dass der Mensch immer dann am besten ist, wo er überschaubare Lebensräume selber gestalten und mit direkt sichtbarer Wirkung Verantwortung übernehmen kann. Oder, wie es die Glücksforschung belegt: Je eigenständiger man handeln kann, desto glücklicher ist man.

Eigenständigkeit eröffnet auch Chancen

Bisher ist die Schweiz mit diesem Kurs sehr gut gefahren, trotz aller Angstszenarien. Ja, er hat uns auch stark gemacht. Denn etwas hat die Geschichte immer wieder gezeigt: Je härter die Prüfung, desto fitter und flexibler sind am Ende die Teilnehmer.

Auf lange Sicht eröffnet der eigenständige Weg damit vielleicht grössere Chancen zur Zukunftsgestaltung als, in einer disparaten Gruppe eingebunden, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen.

Nun allerdings leben wir in Umbruchzeiten. Und allgemeine Rezepte verlieren da gerne ihre Tauglichkeit. Wenn etwa ein Sturm kommt, wenn grosse Umwälzungen schnell erfolgen, sind wir in der Gruppe möglicherweise sicherer – aber eben auch weniger reaktionsfähig. Auf die Gretchenfrage gibts damit keine leichte Antwort. Vieles hängt vom persönlichen Glauben daran ab, wie wir die globale Entwicklung in nächster Zeit einschätzen.  

Sicher ist eines: Dieser Entscheid darf nicht allein der Politik überlassen werden, er wird vom Volk gefällt werden müssen.

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Dominique Strebel, Chefredaktor
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