In Bangladesch sind 40 Rappen für eine Überstunde nicht schlecht. Also arbeitet Kulsum* stets so viel wie nur möglich. Sie ist Näherin bei Sams Attire, einer Fabrik in der Hauptstadt Dhaka, wo der Konzern C&A Hemden, Hosen, Kleider und T-Shirts schneidern lässt. Kulsums Lohn reicht knapp für ein Zimmer in einer Baracke nahe der Fabrik und für das Schulgeld der zwei Kinder. «Mein Mann zieht eine Rikscha», sagt die 28-Jährige. «Mit seinem Lohn können wir gerade unser Essen kaufen.»

7000 Kilometer von Dhaka entfernt hat die Cofra Holding ihren Hauptsitz, in Zug. Sie verwaltet das Vermögen der Familie Brenninkmeijer, die vor bald 200 Jahren C&A gründete und den internationalen Textilkonzern kontrolliert. Die Brenninkmeijers sind mit geschätzten 15 Milliarden Franken Vermögen laut «Bilanz» die achtreichste Familie der Schweiz. Zahlen macht C&A nicht publik, Familienfirmen müssen das nicht.

In der Branche weiss man aber: Der Umsatz von C&A schrumpft seit Jahren. Discounter wie Aldi, KiK, Primark und Lidl verkaufen Mode noch billiger, Ketten wie Zara und H&M ziehen immer mehr Kundinnen und Kunden an. 2018 suchten die Brenninkmeijers einen Käufer für ihren Konzern – erfolglos.

Dann kam Corona: C&A musste alle 1400 Filialen in Europa für Wochen schliessen. 

Am 23. März, kurz nach Ausbruch der Pandemie, schreibt Martijn van der Zee,  die Nummer zwei von C&A, den Lieferanten in Bangladesch: «Aussergewöhnliche Zeiten erfordern aussergewöhnliche Massnahmen, […] die unsere Partnerschaft auf die Probe stellen.» Will heissen: C&A streicht «mit sofortiger Wirkung» alle Bestellungen bis Ende Juni, egal in welchem Status der Produktion. Sogar bereits genähte Kleider bleiben in den Lagerhallen liegen.

Momentaufnahme einer Katastrophe

C&A ist nicht der einzige Kleiderkonzern, der Grossaufträge in Bangladesch und weiteren Ländern abrupt zurückgezogen hat. Wie sich verschiedene Modeketten verhalten haben, zeigt erstmals ein Datensatz, den der Verband der Textilindustrie in Bangladesch erhoben hat.

Die Tabelle liegt dem Recherche-Kollektiv Reflekt und dem Beobachter exklusiv vor. Sie führt 7854 stornierte oder aufgeschobene Orders aus der Modeindustrie auf, darunter solche aus der Schweiz. Die Tabelle ist die Momentaufnahme einer Katastrophe von Ende März.

  • Allein C&A soll Aufträge im Wert von 166 Millionen Dollar gestrichen haben.
  • 178 Millionen Dollar sollen es beim schwedischen Konzern H&M sein.
  • Die Basler Modekette Tally Weijl soll zunächst Bestellungen von 7 Millionen Dollar ausgesetzt und von rund 3 Millionen storniert haben.

Ende Juni spricht Tally Weijl selbst von Stornierungen von 2,17 Millionen Dollar: «Mittlerweile sind alle diese On-Hold-Bestellungen in Produktion, auf dem Weg oder bereits bei uns eingetroffen.»

Insgesamt wurden Aufträge im Umfang von 3,2 Milliarden Dollar storniert oder ausgesetzt – ein Zehntel der jährlichen Textilausfuhren von Bangladesch. Das Land verschickt jedes Jahr Kleider im Wert von etwa 35 Milliarden Dollar, 84 Prozent der Ausfuhren entfallen auf T-Shirts, Kleider – und Herrenanzüge, den Exportschlager.

Als wir Kulsum Anfang April am Handy erreichen, sitzt sie mit Mann und Kindern in ihrer Baracke. Ende März hatte die Regierung einen «landesweiten Urlaub» verordnet. Kulsum verlor ihre Arbeit, ihr Mann verdient keinen einzigen Taka mehr. Täglich verlangt der Vermieter sein Geld. Kulsum hat Angst, er könnte ihre Familie aus dem Zimmer werfen. «Wenn das so weitergeht, wird es sehr, sehr schwierig», sagt sie. «Wer arm ist, muss wohl sterben.»

Demonstrantinnen verletzt

Mitte April gehen Tausende Näherinnen auf die Strasse. Die einen fordern ihren Lohn, andere die Wiedereröffnung ihrer Fabrik und weitere, dass ihre Fabrik geschlossen bleibt, weil sie Angst haben vor einer Corona-Ansteckung. Dutzende Demonstrantinnen werden verletzt, zwei Frauen sollen getötet worden sein. Premierministerin Sheikh Hasina hatte Ende März zwar über eine halbe Milliarde Franken zur Stützung der Textilindustrie versprochen. Doch die Zahlungen laufen nur schleppend.

Verantwortlich für das Chaos ist der Auftragsstopp der Modeketten. Fast alle Regierungen hätten das öffentliche Leben lahmgelegt, argumentiert C&A – man könne daher für «Wochen, wenn nicht sogar Monate» nichts in den Läden verkaufen. Die Rechnung ist einfach: kein Verkauf, kein Umsatz, kein Geld für die Lieferanten. Sie könnten nicht erwarten, dass der Konzern die Verträge «einhalte und/oder erfülle», schreibt C&A den Lieferanten in Bangladesch und beruft sich auf deutsches Recht. Es erlaube, Bestellungen bei höherer Gewalt auszusetzen oder zu annullieren.

Rechtsanwälte wie der auf die Modebranche spezialisierte New Yorker Alan Behr sehen das kritisch. Der Hinweis auf höhere Gewalt könnte ungerechtfertigt sein, «da die meisten Klauseln über höhere Gewalt Pandemien nicht als Grund für Zahlungsversäumnisse angeben», sagt er. Letztlich müsse ein Gericht darüber befinden.

Ob es je dazu kommt, ist fraglich. Denn für die Lieferanten sind die Aufträge überlebenswichtig: «Viele werden sich nicht gegen die Modekonzerne wehren», sagt Christie Miedema von Clean Clothes Campaign. Die Nichtregierungsorganisation setzt sich für die Rechte der Textilarbeitenden ein. Wenn Lieferanten grosse Kunden wie C&A verärgern, ziehen die einfach ins nächste Land, wie eine Karawane auf der Suche nach noch günstigeren Absteigen.

«Unsere Lage ist apokalyptisch. Die stornierten und ausgesetzten Bestellungen der westlichen Modehäuser bringen uns an den Rand des Ruins.»

Rubana Huq, Präsidentin der Textilindustrie von Bangladesch

Die Macht liegt im Westen. Konzerne wie C&A entwerfen die Verträge und heben sie wieder auf. Ein Beispiel dafür sind die allgemeinen Geschäftsbedingungen von C&A. So erlaubt sich der Konzern, Rechnungen der Lieferanten um bis zu 12 Prozent zu kürzen. Einen «Discount von 4,5 Prozent» gönnt sich C&A, wenn die Firma die Rechnung innerhalb von zehn Tagen bezahlt. «Das liest sich für mich wie: Wir nehmen mal 4,5 Prozent Rabatt auf alles», sagt ein Branchenkenner. Weitere 7,5 Prozent können bei «Lieferung einer anderen Ware oder weniger Ware als bestellt» abgezogen werden. Dass ein Hersteller eine exakte Stückzahl liefern muss, ist laut dem Branchenexperten  «eine harte Nummer, ein Knebelvertrag». Üblicherweise akzeptierten Einkäufer zwischen zwei und drei Prozent mehr oder weniger Kleidungsstücke.

Druck auf die Schwächsten

Die Hersteller in Bangladesch bezahlen Rohstoffe und Löhne im Voraus, versuchen knappe Liefertermine einzuhalten, am Ende bleibt allenfalls ein kleiner Gewinn. Aber besser ein schlechter Auftrag als gar keiner. Daher verdienen die Näherinnen so schlecht – und müssen wachsende Zielvorgaben erfüllen. Modekonzerne quetschten die Zulieferer finanziell so weit aus, bis sie selber «grosse Anreize verspüren, ihre Kosten durch Ausbeutung zu verringern», so die Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch.

In Bangladesch entschieden sich die Hersteller in ihrer Not für ein aussergewöhnliches Vorgehen: Sie prangerten die Methoden ihrer Kunden öffentlich an und baten sie um Zahlung der Ausstände. «Unsere Lage ist apokalyptisch», sagt Rubana Huq. Sie vertritt als Präsidentin der Textilindustrie von Bangladesch nach eigenen Angaben über vier Millionen Näherinnen und Näher. «Die stornierten und ausgesetzten Bestellungen der westlichen Modehäuser bringen uns an den Rand des Ruins.»

C&A startet Schadensbegrenzung

Als Medien über die Missstände in Bangladesch berichten, bittet C&A-Einkaufschef Martijn van der Zee im April die Zulieferer um Verständnis: «Wir wissen, dass unser erstes Schreiben Sie schockiert hat [...]. Auch wir wurden hart getroffen und hatten zu der Zeit keine andere Möglichkeit, als sofort drastische Massnahmen zu ergreifen.» C&A werde die bereits verschiffte Ware bezahlen und die Mehrheit der bestellten Kleider übernehmen. Am 23. April erklärt die Firma über die Cofra Holding, man habe 93 Prozent der aufgehobenen Bestellungen wiederaufgenommen. Auf welche Produktionsländer und auf welchen Zeitraum sich die Zahl bezieht, will C&A nicht sagen.

Ein Zulieferer in Bangladesch sagt Anfang Mai: «C&A stoppt bis heute Bestellungen.» Seine Fabrik bekomme auch kaum mehr neue Aufträge. Der Verband der Textilindustrie in Bangladesch kommt Anfang Mai nach einer Befragung seiner Mitglieder zum Ergebnis, C&A wolle 40 Prozent der Bestellungen definitiv streichen, 20 Prozent im Dezember beziehen und die restlichen 40 Prozent im nächsten Jahr.

Nach Wochen, in denen ihre Familie nur Linsen mit Reis-Crackern gegessen hat, erfährt Kulsum am 1. Mai, dass sie am nächsten Tag wieder zur Arbeit gehen darf. «Endlich», sagt sie. «Ich war so glücklich über die Wiedereröffnung der Fabrik, dass ich das Lieblingsgericht meines Mannes kochte: Linsensuppe, pürierte Auberginen, Spinat und Reis.»

Zurück an die Arbeit

Eine Arbeiterin in Bangladesch wird getestet, ob sie Fieber hat

Temperatur-Check in einer Nähfabrik in Dhaka, Bangladesch

Quelle: Keystone

Bis zu 6000 Näherinnen arbeiten in der Fabrik von Sams Attire, 600 bis 700 pro Etage. Die Fabrik sei von Anfang an wieder fast voll belegt gewesen, obwohl nur 30 Prozent der Arbeitskräfte erlaubt sind. «Es ist schwierig, Distanz zu halten», sagt Kulsum.

Mitte Mai bekommt sie knapp 59 Dollar – 60 Prozent ihres April-Lohns. Er wurde mit staatlichen Geldern finanziert, die Fabriken müssen den Kredit mit zwei Prozent Zins zurückzahlen. C&A fordert Regierungen und Banken auf, «den Zugang zu Krediten und Einkommensbeihilfen für Unternehmen und Arbeitnehmer zu beschleunigen».

In den Fabriken wird wieder genäht, doch in Bangladesch fehlt noch immer viel Geld. Einer, der offener darüber spricht als die Lieferanten, ist Scott Nova von der US-Nichtregierungsorganisation Worker Rights Consortium. 

Er geht davon aus, dass C&A ungefähr 90 Prozent der Bestellungen wieder aktiviert habe. Damit stehe die Firma besser da als andere. Das Problem sei aber nicht gelöst. «Konservativ gerechnet, besteht eine Lücke von 20 bis 30 Millionen Dollar», sagt Nova. Zwei bis drei Millionen Dollar der C&A-Gelder fehlten heute an Gehältern, das entspricht einem Monat Lohn von 20'000 bis 30'000 Näherinnen.

Zweifel an Versprechen

Dass Textilkonzerne Bestellungen bis zu ein Jahr hinauszögern wollen, komme einer Stornierung gleich. «Wie kann die Firma garantieren, dass sie die Kleider ein Jahr später abnehmen und bezahlen wird?», fragt der Arbeitsrechtler Nova. Zudem müssten Stoffe und Kleider eingelagert werden, sonst schimmelten sie bei der hohen Luftfeuchtigkeit in Bangladesch. Sein Fazit: «Wenn Millionen Dollar fehlen, dauert es, bis sich die Branche vom finanziellen Kater erholt. Lieferanten müssen ihre Fabriken schliessen und Näherinnen entlassen.» Die Löhne sänken, dadurch fehle den Familien das Geld für Essen und Miete.

Ein Sprecher von C&A sagt dazu: «Eine vollständige Produktion aller alten Bestellungen ist nicht möglich und sinnvoll, weil die Produktion in vielen Zulieferländern über mehrere Wochen komplett unterbrochen war und derzeit zum Schutz der Fabrikarbeiterinnen auch nur eingeschränkt wiederaufgenommen werden darf.»

Anfang Juni spricht Rubana Huq vom Textilverband in Bangladesch erstmals öffentlich über das Ausmass der Krise: «1926 Fabriken haben die Produktion wiederaufgenommen.» 4500 Fabriken zählt der Verband als Mitglieder. Die Auslastung betrage erst 55 Prozent. Weiterhin seien Bestellungen storniert, nach wie vor fehlten 430 Millionen Dollar, um die Löhne der Näherinnen zu zahlen. Etwa jeder zweite Job im Textilsektor sei in Gefahr. Huq droht: «Wir setzen Firmen, die nicht zahlen und nicht auf ihre Lieferanten reagieren, auf eine schwarze Liste.» Und erstmals drohen einzelne Lieferanten damit, Käufer zu verklagen.


*Name geändert

  • Dieser Artikel entstand in Zusammenarbeit mit dem unabhängigen Recherche-Kollektiv Reflekt.
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Martin Vetterli, stv. Chefredaktor
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