Beobachter: Was antworten Sie einer Person, die behauptet, Menschenhandel gebe es in der Schweiz vielleicht im Sexgewerbe, aber sonst sei das kein Problem?
Daniel Thelesklaf: Noch vor fünf Jahren hätte ich das nicht als absurde Äusserung eingestuft. Heute sehe ich das anders. Bei Menschenhandel reden wir über eine Form von Kriminalität, die zumindest im Alltag wenig sichtbar ist. Wenn wir auch Zwangsarbeit und Kinderarbeit miteinbeziehen, ist es ein riesiges Problem. Wenn ich ein T-Shirt kaufe für fünf Franken oder eine Büchse Thunfisch für 95 Rappen, steigt die Wahrscheinlichkeit stark an, dass Elemente von Zwangsarbeit enthalten sind. Es handelt sich um ein klassisches Marktversagen. Der Markt regelt die Preise nicht, er anerkennt keine fairen Löhne, und dadurch werden Produkte so billig, dass sie dann letztlich eine hohe Nachfrage erzielen. Und deshalb müssen wir hier korrigierend eingreifen.

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Sie arbeiten für das Uno-Programm «Finance Against Slavery and Trafficking». Weshalb sollen sich ausgerechnet Banken und Versicherungen gegen Menschenhandel engagieren?
2015 haben sich die Uno-Mitgliedstaaten im Rahmen der nachhaltigen Entwicklungsziele verpflichtet, Zwangsarbeit, Menschenhandel und Kinderarbeit bis 2030 zu eliminieren. Doch nach wie vor sind rund 40 Millionen Menschen von dieser Art Ausbeutung betroffen. Wir sind also weit davon entfernt, dieses Ziel zu erreichen. Den Staaten gelingt es nur sehr punktuell, Leute aus ausbeuterischen Situationen zu befreien. Das hat uns auf die Idee gebracht, den Privatsektor einzubeziehen, um diese Ziele zu erreichen. Schliesslich ist die Finanzbranche mit praktisch allen wirtschaftlichen Aktivitäten verknüpft.


Inwiefern?
Es gibt drei hauptsächliche Bezugspunkte zum Menschenhandel. Diese Form von organisierter Kriminalität generiert jährlich rund 150 Milliarden Dollar Gewinn, und mindestens ein Teil davon wird früher oder später durch den Finanzsektor fliessen. Teil unseres Programms ist es, dem Finanzsektor zu helfen, solche illegalen Gelder besser zu erkennen. 


Wenn ich ein KMU besitze und dort Menschen ausbeute, werde ich gegen aussen eine möglichst glatte Fassade abzugeben versuchen. Wie sind denn in einem solchen Fall verdächtige Finanztransaktionen erkennbar? 
Es gibt Transaktionsmuster und Typologien, die auf Menschenhandel hinweisen. Ein typischer Indikator ist zum Beispiel, wenn verschiedene Personen, die nicht verwandt sind, an der gleichen Adresse wohnen. Wenn man nun in einer Bank solche Indikatoren durchleuchtet und kombiniert, kann man Muster erkennen, die für Menschenhandel typisch sind. Auch kleine Beträge und Bargeld hinterlassen Spuren. Und wenn man diesen nachgeht, stösst man oft auf grössere Beträge und die entsprechenden Organisationen im Hintergrund.


Was ist denn der zweite Bezugspunkt der Finanzbranche zum Menschenhandel?
Finanzinstitute sind auch als Investoren und Darlehensgeber involviert. Sie werden ohne Banken kaum ein Grossbauprojekt finanzieren können. Und wenn das Konsortium, das ein Projekt finanziert, dann verlangt, dass auf der Baustelle unabhängige Kontrollen gegen Ausbeutung und Menschenhandel durchgeführt werden, wird der Kreditnehmer im eigenen Interesse schauen, dass es nicht zu solchen Vorfällen kommt, weil er sonst teuer dafür bezahlen muss.


Was haben die Opfer von Menschenhandel von Ihrem Programm?
Das ist der dritte Ansatzpunkt. Wer keinen Zugang zum Finanzsystem hat, muss sich unter Umständen kriminellen Organisationen ausliefern, etwa um ein Darlehen für ein Gewerbe zu erhalten. Das Stichwort lautet deshalb finanzielle Inklusion. Wir sind fest davon überzeugt, dass Menschen, die einen Zugang zu Finanzdienstleistungen haben, weniger gefährdet sind, von Kriminellen abhängig zu werden. Zudem versuchen wir, etwas für Überlebende von Menschenhandel zu tun. Wer sich zum Beispiel aus der illegalen Prostitution befreien kann, hat oftmals keine Ausweispapiere und kann deshalb kein Bankkonto eröffnen. Für solche Menschen haben wir ein Programm aufgezogen und arbeiten mit Banken zusammen. In der Schweiz sind wir mit dieser Idee bisher leider auf taube Ohren gestossen.


Weshalb?
Wir haben mit zwei grossen Finanzinstituten Kontakt aufgenommen, die im Geschäft mit normalen Kundinnen und Kunden tätig sind. Doch sie haben abgelehnt.


Mit welcher Begründung?
Sie haben sehr ausweichend geantwortet. Offenbar hat man in der Schweizer Finanzbranche noch nicht wirklich begriffen, dass man auch eine soziale Verantwortung hat. Dabei hätten wir von der Uno aus alles organisiert, und die entsprechenden Unternehmen hätten nicht einmal Mehrkosten gehabt. Aber wir haben die Schweiz noch nicht aufgegeben. Vielleicht gibt es andere Institute, die da etwas fortschrittlicher oder etwas weniger kleinteilig denken. Wir sind überzeugt, dass es im Rahmen der Schweizer Gesetzgebung möglich wäre, für Opfer von Menschenhandel Finanzdienstleistungen anzubieten, ohne damit die Reputation der Bank zu gefährden.


Sie haben am Anfang gesagt, die Staatengemeinschaft werde es nicht schaffen, Menschenhandel bis 2030 zu eliminieren. Was schafft denn der Finanzsektor bis 2030?
Der Finanzsektor ist sehr stark verknüpft mit der wirtschaftlichen Entwicklung. Er allein wird Menschenhandel nicht beenden können, aber er hat eine grosse Hebelwirkung. Deshalb ist der Finanzsektor ein wesentlicher und unentbehrlicher Bestandteil einer Strategie gegen Menschenhandel und Zwangsarbeit.

Zur Person

Daniel Thelesklaf, 57, war von 1998 bis 2000 sowie von 2019 bis 2020 Chef der Geldwäscherei-Meldestelle des Bundes. Seit April 2021 ist er Projektleiter des Uno-Programms «Finance Against Slavery and Trafficking» in New York. Mit diesem Programm will er erreichen, dass die Opfer von Menschenhandel Zugang zu Finanzdienstleistungen erhalten.

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