Es kostete Marion Vassaux ganz schön viel Mut, gegen die Universität Bern vor Bundesgericht zu ziehen. «Wenn man gegen eine grosse Institution kämpft, fühlt man sich sehr klein und alleine.» Trotzdem will die 20-jährige Lausannerin ihr Recht einfordern. «Ich wollte Tierärztin werden, die Tiermedizinische Fakultät hat dies verhindert, weil sie mir bei der Aufnahmeprüfung Numerus Clausus keinen Zeitaufschub gewährte.»

Weil Vassaux eine Lese-Rechtschreibstörung hat – in der Fachsprache Dyslexie und Dysorthographie genannt –, steht ihr bei Prüfungen zusätzliche Zeit zu. So will es das Behindertengleichstellungsrecht. Wenn Vassaux Texte liest, vermischen sich die Laute in ihrem Kopf. Ein Pferd ist in ihrem Kopf erst ein Fpred. Nur durch langsames Lesen kann sie die Wörter entziffern. Und wenn sie schreibt, bringt sie die Wörter so zu Papier, wie sie ausgesprochen werden. Statt Physiker würde sie ohne Autokorrektur «Füsiker» schreiben, ein Gourmet wird zum «Gurme». «Ich sehe die Fehler nicht, für mich sehen die Wörter richtig aus.»

Trotz mehr Zeit im Nachteil

Aber ist es eine Kernkompetenz für eine Tierärztin, schnell lesen und schreiben zu können? Ist es nicht, finden die Behindertenfachorganisation Inclusion Handicap und Marion Vassaux. «Wenn ein Pferd eine Kolik hat, muss man die Symptome erkennen und rasch handeln Tiermedizin Woran erkennt man, dass eine Katze krank ist? . Die Lese- und Schreibschwäche hindert mich ja nicht daran», sagt Vassaux.

Die Universität Bern sah das offenbar ähnlich und sicherte Vassaux die Zusatzzeit zu – aber erst für die Semesterprüfungen. Die Aufnahmeprüfung Numerus Clausus sei davon ausgenommen. Die Hochschule argumentierte, die Prüfung sei ein Wettbewerb, um die besten Talente zu selektieren. Die Resultate wären nicht mehr vergleichbar, und Vassaux hätte einen Vorteil gehabt gegenüber anderen Studierenden, wenn man ihr ein Drittel mehr Zeit gewährt hätte.

Das sei nicht so, sagt Vassaux. «Der Ausgleich dient nur dazu, das Handicap etwas abzufedern.» Ganz kompensieren könne der Nachteilsausgleich ihre Dyslexie nicht. «Ich muss trotzdem viel mehr arbeiten als andere Studierende.» Darüber beklagen mag sie sich nicht, denn es sei ihr Entscheid, zu studieren. «Und darauf habe ich wirklich grosse Lust.»

Sie hoffte auf einen Glückstag

Obwohl sie wusste, dass ihre Chancen auf Erfolg gemindert sind, trat sie zur Prüfung an. «Ich wollte nicht einfach kapitulieren und hoffte darauf, dass ich es vielleicht schaffe.» Es reichte nicht, und Vassaux rekurrierte. Zuerst bei der Universitätsleitung, später beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern. Da dieses den Entscheid der Uni mit drei zu zwei Stimmen stützte, geht Vassaux nun mit Hilfe von Inclusion Handicap einen Schritt weiter und lässt die Bundesrichter entscheiden.

Es geht um die Frage, ob es zulässig ist, dass die Medizinische Fakultät ihr während des Studiums bei Prüfungen mehr Zeit gibt, nicht aber bei der Aufnahmeprüfung. Das sei juristisch eine spannende Frage, die bisher noch nicht abschliessend geklärt sei, sagt Caroline Hess-Klein, Abteilungsleiterin Gleichstellung bei Inclusion Handicap. Der Numerus Clausus wurde aus vorwiegend ökonomischen Gründen eingeführt, damit man bei Fächern mit begrenztem Platz die Studienplätze denjenigen zur Verfügung stellen kann, die voraussichtlich wenig Studienzeit benötigen.

Dass man bei ihr als Dyslektikerin davon ausgehe, dass sie länger studieren werde als andere, zeige, dass die Universitäten noch zu wenig wüssten über die Beeinträchtigung, sagt Vassaux. «Es ist klar, dass wir mehr arbeiten müssen als andere, aber das findet nach der Vorlesung statt.» Andere Studierende würden durch ihre Anwesenheit keinen Nachteil erleiden. Einzig bei der Institution falle etwas mehr Aufwand an: Elf Mal im Jahr müssen sie den Prüfungsraum eine Stunde länger zur Verfügung stellen. «Für mich ist das aber keine verlorene Zeit, das sollte für eine grosse Universität verkraftbar sein.»

Vassaux’ Prozess- und Anwaltskosten werden von einem speziellen Fonds von Inclusion Handicap für richtungsweisende Prozesse getragen. Obwohl ihr bei einem negativen Bundesgerichtsurteil also keine finanziellen Nachteile drohen, erwarten sie und Caroline Hess-Klein den Bescheid mit Spannung. «Das Bundesgericht könnte dafür sorgen, dass die Diskriminierung von Menschen mit Dyslexie beseitigt wird», sagt Hess-Klein.

Denn das Urteil des Verwaltungsgerichts habe Signalwirkung: Alle Schweizer Universitäten würden sich auf den Berner Entscheid stützen, vermutet Hess-Klein. Damit sei der Zugang für Menschen mit einer Legasthenie für alle Studienfächer mit Numerus Clausus erschwert. Schätzungen zufolge sind rund fünf Prozent der Bevölkerung von Dyslexie betroffen. Man habe den Schritt ans Bundesgericht also wagen müssen, auch wenn ein negativer Bescheid die Sache für Jahre zementieren würde.

Keine Zeit zum Warten

Auf Marion Vassaux’ beruflichen Weg hat das Urteil des Bundesgerichts momentan keinen Einfluss mehr: Sie wollte nicht auf den Gerichtsentscheid warten, zu viel wertvolle Zeit wäre für die junge Frau verstrichen. Sie hat sich unterdessen für ein Biomedizinstudium in Genf eingeschrieben. Umso mehr bewundert Hess-Klein Vassaux’ Motivation, sich in ein solches Verfahren zu begeben. Es brauche Mut, für sein Recht einzustehen.

Und wie sieht das Vassaux selbst? «Ich möchte, dass die Öffentlichkeit über diese Sache aufgeklärt wird.» Darum überwindet sie ihre Bedenken, dass sich Leute ein vorschnelles, negatives Urteil über sie bilden könnten, ohne den Menschen hinter der Sache zu sehen. «Der Frust, sich nicht gehört zu fühlen und zu wissen, dass man trotz enormem Engagement nicht die gleichen Chancen wie andere hat, ist grösser als die Sorge vor negativen Reaktionen.»