78’000 Franken. Das war der Betrag, den die Sozialbehörde Rümlingen BL einem damals 63-Jährigen vor zwei Jahren in Rechnung stellte. Er habe drei Jahre lang zu Unrecht Sozialhilfe bezogen, lautete die Begründung. Darum müsse er sie zurückzahlen. Das Bundesgericht hat nun entschieden: Nein, muss er nicht. Es ist ein Urteil mit Folgen.

Nicht zu Unrecht Sozialhilfe bezogen

Der Mann lebte damals seit zehn Jahren von der Sozialhilfe. Als er 63 Jahre alt wurde, erhielt er eine AHV-Rente. So ist das bei Sozialhilfebezügerinnen und -bezügern üblich. Was der Mann der Gemeinde nicht gesagt hatte: dass er auf einem Freizügigkeitskonto über ein Pensionskassenkapital von 100’000 Franken verfügt. Die Gemeinde befand, er hätte dieses Geld mit 60 Jahren beziehen müssen – und habe deshalb in den drei Jahren danach zu Unrecht Sozialhilfe bezogen. Sie forderte das Geld zurück. Der Mann wehrte sich dagegen, Regierungsrat und das Kantonsgericht stützten jedoch die Gemeinde.

Das Bundesgericht entschied jetzt jedoch anders. Sozialhilfebezüger dürften nicht gezwungen werden, ihr Pensionskassengeld vorzeitig zu beziehen, heisst es in einem Anfang März publizierten Urteil.

Existenzbedarf bei 40’000 Franken

Das Bundesgericht macht aber Einschränkungen. Der Bescheid gilt nur bei kleinen Pensionskassenvermögen, die – wie bei dem Mann in Rümlingen – in den drei Jahren bis zum Bezug der AHV-Rente vollständig aufgebraucht gewesen wären.

Dabei orientierte sich das Gericht an den Richtlinien, die für Ergänzungsleistungen gelten. Ihnen zufolge liegt der Existenzbedarf bei einem alleinstehenden Mann bei rund 40’000 Franken im Jahr. Der Mann hätte nach zweieinhalb Jahren also sein gesamtes Pensionskassenvermögen aufgebraucht und wäre wieder bei der Sozialhilfe gelandet.

Als Begründung verweist das Bundesgericht auf die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos). Sie hält fest, dass eine Person grundsätzlich erst Geld aus der Pensionskasse beziehen soll, wenn sie eine AHV- oder IV-Rente erhält.

Kantone müssen klare Regeln schaffen

«Der Entscheid des Bundesgerichts muss grosse Auswirkungen auf die Praxis in der Sozialhilfe haben», sagt Beobachter-Sozialhilfeexpertin Corinne Strebel. Denn wie Rümlingen gehen viele Gemeinden vor, zeigt die Erfahrung aus dem Beobachter-Beratungszentrum. Im Kanton Thurgau etwa ist es gängige Praxis, Menschen zum Vorbezug ihrer Pensionskassengelder zu verpflichten. Einzelne Gemeinden fordern ihre Klienten sogar dazu auf, rechtmässig bezogene Sozialhilfe mit diesem Geld zurückzuerstatten.

Auch im Aargau fordern viele Gemeinden den Vorbezug. Die Sozialhilfe mit dem Pensionskassenvermögen zurückzahlen müssen dort ehemalige Bezüger aber nicht mehr. Solche Forderungen hat der Kanton den Gemeinden untersagt. «Jetzt müssten die Kantone aktiv werden und in ihren Sozialhilfegesetzen und -verordnungen klar regeln, unter welchen Umständen aus Geldern der zweiten Säule Sozialhilfe zurückgezahlt werden muss», sagt Corinne Strebel.

Offene Fragen bleiben

Einige wichtige Fragen bleiben allerdings auch mit dem neuen Bundesgerichtsurteil ungeklärt. So äussern sich die Richterinnen und Richter nicht zur Frage, ob es grundsätzlich zulässig ist, dass Personen rechtmässig bezogene Sozialhilfe mit ihren Pensionskassengeldern zurückzahlen müssen. Auch schliesst das Gericht nicht aus, dass Sozialhilfebezüger verpflichtet werden können, ihre PK-Gelder zu beziehen, wenn es sich um grössere Vermögen handelt.

«Es wäre sinnvoll, wenn alle Kantone dem Beispiel des Kantons Aargau folgen würden», sagt Sozialhilfeexpertin Strebel. Dort ist heute klar geregelt: Aus Pensionskassengeldern muss keine Sozialhilfe zurückgezahlt werden.