Ein Priester hat eine minderjährige Frau in den Neunzigerjahren sexuell missbraucht – mehrere Jahre lang. Bischof Felix Gmür eröffnete gegen den mutmasslichen Täter kein kirchliches Strafverfahren, wie der Beobachter publik machte. Gleichzeitig schickte er Kopien der persönlichen Tagebuchnotizen der jungen Frau aus Zeiten des Missbrauchs dem mutmasslichen Täter weiter.

Dieser Fall ist geprägt von einer Kaskade von Fehlleistungen kirchlicher Würdenträger – alle zum Nachteil eines Opfers von sexuellem Missbrauch. Denkwürdig ist vor allem das Verhalten von Bischof Gmür. Es symbolisiert den aktuellen Zustand der katholischen Kirche im Umgang mit Missbrauchsfällen: Gegen aussen zeigt man sich betroffen, verständnisvoll und verspricht Aufarbeitung. Tatsächlich aber passiert das Gegenteil. Die eigenen kirchenrechtlichen Vorgaben werden ignoriert, Fehler negiert oder auf andere abgeschoben – im schlimmsten Fall wird den Opfern sogar eine Mitschuld unterstellt.

Nach der Publikation des Falls, der schweizweit von Medien aufgegriffen wird, gibt sich Bischof Gmür geläutert: «Dass es nicht gelungen ist, die korrekten Schritte umzusetzen, anerkennt der Bischof als ein Scheitern, das nicht mehr vorkommen darf.» Er habe nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt.

Nach diesem Muster handelt die katholische Kirche seit Jahren. Man reagiert erst, wenn es nicht mehr anders geht. Spätestens seit im Jahr 2002 in den USA der «Boston Globe» über das riesige Ausmass der sexuellen Missbräuche in der katholischen Kirche berichtete, hätten auch die Kirchenoberen der Schweiz aktiv werden müssen. Aber sie konnten sich gerade mal dazu durchringen, Richtlinien für die Prävention von Missbrauchsfällen zu erlassen. Es sollte noch acht Jahre dauern, bis sich die Bischofskonferenz bei den Opfern entschuldigte.

Eine Vorschrift, über die man nur den Kopf schütteln kann: Jedes Bistum muss ein Geheimarchiv führen, zu dem nur der Bischof Zugang hat.

Die Aufarbeitung hingegen musste weiterhin warten. Erst vor einem Jahr wurde – aufgrund des öffentlichen Drucks – eine Pilotstudie in Angriff genommen. Ohne die zahlreichen Missbrauchsopfer, die in den letzten Jahren den Mut aufbrachten, in der Öffentlichkeit über ihren Fall zu reden, hätte sich die Kirche wohl kaum bewegt.

Am 12. September gibt die katholische Kirche bekannt, was diese Pilotstudie ergeben hat und wie es weitergehen soll. Im Zentrum steht die Frage, welche Akten in den Archiven der Bistümer, bei den Orden, bei den kantonalen Kirchen oder den örtlichen Pfarreien existieren. Und ob diese Archive den Forschenden überhaupt zugänglich gemacht werden.

Bis heute existiert im Kirchenrecht eine Vorschrift, über die man nur den Kopf schütteln kann: Jedes Bistum muss ein Geheimarchiv führen, zu dem nur der Bischof Zugang hat. Eine weitere Regelung des kanonischen Rechts besagt, einmal jährlich müssten Akten aus Sittlichkeitsverfahren vernichtet werden, die seit zehn Jahren abgeschlossen sind oder wenn der Täter verstorben ist. Bis heute gibt es keine Weisung der Bischofskonferenz oder des Vatikans, die Aktenvernichtung zu stoppen.

Die zögerliche Aufarbeitung der Geschichte übergriffiger Würdenträger ist beschämend.

So werden die Erkenntnisse aus der Vorstudie und die Fragestellung für die weitere Forschung zu einem Meilenstein in der Aufarbeitung der sexuellen Missbräuche in der katholischen Kirche. Inzwischen haben die Bischofskonferenz, die Römisch-Katholische Zentralkonferenz sowie die Vereinigung der Orden angekündigt, dass 2024 ein dreijähriges Folgeprojekt starten soll. Das ist begrüssenswert, und es kann hier nur einen Weg geben: Alles muss auf den Tisch.

Bis die Ergebnisse dieser Studie vorliegen, werden dereinst fast 30 Jahre vergangen sein, seit das riesige Ausmass der Übergriffe von Klerikern weltweit für Schlagzeilen gesorgt hat. 30 Jahre, in denen die Kirche die Opfer allein liess. 30 Jahre, in denen ungezählte Opfer verstorben sind. 30 Jahre, in denen ungezählte Täter nicht zur Rechenschaft gezogen wurden.

Die zögerliche Aufarbeitung der Geschichte übergriffiger Würdenträger ist beschämend. Das wahre Problem sind die Strukturen der katholischen Kirche. Gewaltenteilung existiert nicht, die Machtbefugnisse eines Bischofs sind riesig, sein Einflussbereich bis heute unangetastet. In einer demokratischen Gesellschaft unvorstellbar. Es ist ein pyramidenförmiges Machtsystem, das keine interne Widerrede duldet.