150 kleine Konfigläser, stibitzt vom Frühstücksbuffet, fand Hotelière Rita Kienberger einst im Koffer von wohlhabenden Stammgästen aus Frankreich. Sie wird die Sache diskret behandelt haben, wie es im Grandhotel Waldhaus in Sils GR seit über 100 Jahren üblich ist.

Überliefert ist die Episode durch ihren Sohn Jürg Kienberger, den bekannten Komiker, der sein Aufwachsen im «Waldhaus» öfter in seinen Bühnenstücken thematisierte. Jürg Kienberger ist der Onkel der heutigen Direktoren Claudio und Patrick Dietrich (siehe Stammbaum). 



Die Brüder Claudio und Patrick Dietrich, Ururenkel des «Waldhaus»-Gründers Josef Giger, leiten das Hotel seit 2010. Ihre Schwester Carla Lehner-Dietrich führt den Spa-Bereich, Claudio Dietrichs Frau Cornelia das Marketing. Ein Familienbetrieb, seit 115 Jahren. Die günstigsten Zimmer kosten 485 Franken, das teuerste 1700. Pro Nacht, mit Halbpension.



Die Brüder sind im «Waldhaus» aufgewachsen. Heute leben beide mit ihrer Familie in einem der Personalhäuser daneben. 170 Angestellte hat das Hotel, 140 Zimmer. Gebaut auf einem Fels im Wald, auf gut 1800 Metern über Meer. Hoch über dem Dorf Sils Maria, am Eingang zum Fextal, zwischen Silser- und Silvaplanersee. Eine grandiose Lage.

«Wohl kein Besucher wird jemals abreisen aus diesem einzigartigen Hotel, der nicht von einem Mitglied der Familie verabschiedet wurde. Die persönliche Betreuung gehört seit der Eröffnung im Jahre 1908 zum Charakter des Hauses», schrieb die «NZZ am Sonntag» kürzlich in ihrem Hotelranking über das «Waldhaus». Wie immer landete es auf einem der vorderen Ränge.

Wie erhält man über Generationen hinweg die persönliche Note? 
Patrick Dietrich:
Wir begegnen unseren Gästen auf Augenhöhe. Die Rolle der Familie war es immer, die Bühne in Ordnung zu halten und auf dem Boden zu bleiben. An dieser Mentalität hat sich bis heute nichts geändert.

Was heisst das konkret?
Claudio Dietrich:
Wir bieten unseren Gästen ein Leben an, das wir selber nicht haben. 

Claudio Dietrich, stämmige Postur, mit 46 Jahren der Ältere, ist für die Betriebsführung zuständig. Patrick Dietrich, schmal, mit Brille, 43, für die Gästebetreuung. «Er hat eine Engelsgeduld», sagt der Ältere über ihn. Beide sind gelernte Köche, beide haben nach der Lehre eine Hotelfachschule besucht. Danach arbeiteten sie im Ausland, bis sie das «Waldhaus» übernahmen. Anekdoten über die Gäste erzählen sie nicht – wer in eine Hoteldynastie hineingeboren wurde, hat Diskretion verinnerlicht.

Waldhaus Standort

Einmalige Lage: Das «Waldhaus» steht auf einem Fels auf gut 1800 Metern über Meer.

Quelle: Stefan Pielow

Das «Waldhaus» in Zahlen

2022 war ein Rekordjahr für das «Waldhaus»: 53’278 Logiernächte, 12’279 Ankünfte von Gästen, eine Auslastung von 87 Prozent und ein Gesamtumsatz von 21,9 Millionen Franken.

Im Gründungsjahr 1908 kamen nur 622 Gäste, allerdings war das Hotel nur im Sommer geöffnet. Die Gästezahlen haben sich seither fast verzwanzigfacht, die Logiernächte aber nur vervierfacht. 4,5 Tage bleiben die Gäste heute im Schnitt – früher waren es mehrere Wochen. Die Zahl der Badzimmer wuchs von 40 auf 180. Die 140 Zimmer sind alle unterschiedlich eingerichtet.

Im «Waldhaus» gehen Bundesräte ein und aus, Künstlerinnen, Schriftsteller, Wissenschaftlerinnen oder Philosophen. Albert Einstein weilte hier, ebenso Marc Chagall, Hermann Hesse, Theodor W. Adorno, Gottlieb Duttweiler, Katia und Thomas Mann oder Regisseur Christoph Marthaler. Aber auch die Schweizer Ski-Nationalmannschaft und der FC Basel. Juliette Binoche und Kristen Stewart drehten hier den Film «Die Wolken von Sils Maria». Der Maler Gerhard Richter schenkte dem Haus zwei seiner Bilder; aus Dankbarkeit. Weil es ihm hier so gut gefallen hatte. 

In der Schweiz gibt es 107 Fünfsternehotels, gut die Hälfte davon in Feriendestinationen, die meisten im Bündnerland. Der Anteil der Luxushotels stieg in den letzten zehn Jahren um fast 20 Prozent – die Gesamtzahl der Hotels sinkt aber. 

Was ist luxuriös im Jugendstilhotel Waldhaus?
Patrick Dietrich:
Der Platz, man hat viel Luft hier. Die breiten Gänge, die sechs Meter hohe Hotelhalle. Hier spielt täglich die Hauskapelle zum Tee, abends gibt es Konzerte. Und unsere Bibliothek, hier findet jede und jeder einen ruhigen Leseplatz. Und die Aussicht natürlich.

Das Onlineportal Superiorhotels.info definiert «Luxushotel» so: «Heutzutage geht es immer weniger um Glamour oder die berühmten goldenen Wasserhähne als vielmehr um grosszügigen Raum und besonderes Design.» Oft seien es aussergewöhnliche Ausblicke, naturnahes Ambiente und das gewisse Extra an Aufmerksamkeiten, die das Gefühl von Luxus erzeugten. Nur noch wenige Fünfsternehäuser sind in Familienbesitz.

Waldhaus 111. Geburtstag

«Wir bieten unseren Gästen ein Leben an, das wir selber nicht haben», sagt Direktor Claudio Dietrich.

Quelle: Stefan Pielow

Wie gehen Sie mit dem Druck um, das Hotel gemäss der Familientradition zu leiten?
Claudio Dietrich: Ich empfinde unsere Aufgabe nicht als Last. In meiner Schulklasse hier in Sils Maria waren fast alle Eltern selbständig und führten einen eigenen Betrieb. Unsere Eltern führten halt einfach einen etwas grösseren. Dass ich den vielleicht einmal übernehmen werde, darüber redeten wir als Kinder nicht.

Sie sprachen nicht darüber, weil alles schon vorgegeben war?
Patrick Dietrich: Vorgegeben war damals noch nichts. In der vierten Klasse habe ich meinem Vater gesagt, dass ich Hoteldirektor des «Waldhaus» werden möchte. Es kam dann aber nicht die Reaktion: «Super, finde ich gut», sondern er erklärte mir ausführlich, was für mögliche Wege es dafür gebe. Seine Reaktion war sehr neutral, und so verhielt er sich zu allen fünf Kindern.

Wieso übernahmen Sie und nicht eine der drei Schwestern? 
Patrick Dietrich: Als wir im Sommer 2005 gefragt wurden, wer in fünf Jahren die Leitung übernehmen wolle, waren mein Bruder und ich die Einzigen, die sich dazu bekannten. Meine Zwillingsschwester wollte nicht, und meine älteste Schwester war mit ihrem Job in der Pflege glücklich. Meine jüngste Schwester meinte, dass sie es sich gut vorstellen könne, im «Waldhaus» mitzuarbeiten, aber nicht als Direktorin. 

Der Stammbaum hinter dem «Waldhaus»

Generation I
Josef Giger (1847–1921) + Amalie Giger, geb. Nigg (1849–1924)

Generation II
Helen Kienberger, geb. Giger (1882–1959) + Oskar Kienberger (1879–1965)

Generation III
Rolf Kienberger (1917–1994) + Rita Kienberger, geb. Müller (1926–2006)

Generation IV
Maria Dietrich, geb. Kienberger (*1953) + Felix Dietrich (*1950)
Urs Kienberger (*1952)

Generation V
Claudio Dietrich (*1977) + Cornelia Dietrich, geb. Ryser
Patrick Dietrich (*1980) + Ursina Dietrich, geb. Planta

Ein Gesamtumsatz von 21,9 Millionen Franken: Das Grandhotel Waldhaus hat 170 Angestellte.

Ein Gesamtumsatz von 21,9 Millionen Franken: Das Grandhotel Waldhaus hat 170 Angestellte.

Quelle: Stefan Pielow

Im Mezzanin, dem niedrigen Zwischenstock zwischen Erdgeschoss und erstem Stock, befindet sich die ehemalige Wohnung der Hoteliers. Drei Zimmer, eins mit grossem Esstisch und zehn Stühlen. Hier trifft sich während der Saison die Familie zum Lunch. Die restlichen Zimmer werden als Büros genutzt. Nichts ist luxuriös hier. «So ticken wir», meint Patrick Dietrich. Schon seine Grossmutter habe gesagt: Wenn die Hotelfamilie in den schönsten Zimmern wohnen würde, sei das das erste Anzeichen des Untergangs.

Wie definieren Sie Ihre Arbeit?
Claudio Dietrich:
Wir wollen das Erbe unserer Vorfahren weiterführen, aber auf unsere Art. Jede Generation muss ihren eigenen Weg finden. 

Was heisst das: «den eigenen Weg finden»?
Patrick Dietrich:
Unsere Eltern waren zum Beispiel jeden Abend im Speisesaal bei den Gästen und sprachen mit ihnen. Jeden Abend. Sie hatten kaum Freizeit. Wir haben uns aufgeteilt, jeder macht zwei, drei Abende, manchmal übernimmt auch unsere Schwester. Wir wollen auch Zeit für die Familie haben.
Claudio Dietrich: Das Service-Gen ist für Hoteliers sehr wichtig, aber man muss auch für sich selber schauen, nur dann kann man ein guter Gastgeber sein. Das haben wir gelernt. Dennoch begrüssen wir immer noch jeden Gast bei der Ankunft persönlich, ebenso verabschieden wir ihn bei der Abreise, das ist uns wichtig. Wir setzen auf diese Familientradition. 

Was wollen Sie ändern?
Claudio Dietrich:
Wir wollen ein Ruhepol bleiben. Aber heute trennen die Gäste nicht mehr so strikt zwischen Freizeit und Arbeit. Wir müssen Platz zum Arbeiten anbieten, ohne dass sich andere Gäste dadurch gestört fühlen. Daran arbeiten wir.

Das Handyverbot in den öffentlichen Räumen des Hotels gilt aber immer noch?
Patrick Dietrich:
Ja, zum Telefonieren. Daran halten wir fest.

Er führt aufs Dach des Hotels, das für Gäste nicht zugänglich ist – noch nicht. Die Aussicht ist phänomenal. Patrick Dietrich erzählt, dass sie hier oben gern eine Lounge eröffnen würden. «Damit alle diesen Blick geniessen können.» Die besten Plätze sollten für die Gäste sein. Das wusste schon seine Grossmutter.

Patrick Dietrich, Sie haben drei Kinder. Wird das die sechste Generation im «Waldhaus»?
Patrick Dietrich:
Meine Nichte hat kürzlich ihr erstes Kind bekommen, damit ist bereits ein Mitglied der siebten Generation geboren. Eine Weiterführung des Hotels in der Familie wünschen wir uns sehr. Ob das meine Kinder sein werden oder die Kinder anderer Familienmitglieder, das ist noch völlig offen.

Diese Schweizer Unternehmen sind seit Generationen in Familienhand 

Der Circus Knie wird in der sechsten Generation von Franco Knie geführt. Gründer Friedrich Knie brach 1803 sein Medizinstudium ab, um wenig später den Zirkus zu eröffnen.

Ricola wurde 1930 in Laufen bei Basel durch Emil Richterich gegründet, der die Kräuterbonbons erfand. Heute leitet die vierte Generation der Familie Richterich die Firma.

Roche wurde 1896 von Fritz Hoffmann in Basel gegründet. Die Nachkommen haben bis heute die Mehrheit der Stimmrechte. 

Die Confiserie Sprüngli wurde 1836 in Zürich von David Sprüngli eröffnet. Heute gibt es 26 Verkaufsgeschäfte in der Schweiz, in Deutschland und in Österreich – die meisten davon in Zürich. Die Confiserie ist seit sechs Generationen im Besitz der Familie.

AZ Medien betreibt zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften. 1836 gab der Urgrossvater des heutigen Verwaltungsratspräsidenten Peter Wanner erstmals die «Aargauer Volkszeitung» heraus. Das in Aarau ansässige Unternehmen wird in der vierten und fünften Generation der Verlegerfamilie Wanner geleitet. Sie hat kürzlich die Mehrheit am Medienkonzern CH Media übernommen.

Victorinox ging 1884 aus einer Messerschmiede von Karl Elsener in Ibach SZ hervor. Heute wird die Firma von seinem Urenkel Carl Elsener junior geführt.

Zweifel lancierte die Chips 1958 erstmals unter der Marke Zweifel. Die Firma ist bis heute im Familienbesitz. 

Zusammengestellt von Felix Ertle