Wenn es nicht klar scheint, woher Asylsuchende kommen, wird sie eingeschaltet: die Abteilung Lingua des Staatssekretariats für Migration (SEM). Für die Abteilung prüfen rund 80 Expertinnen und Experten die Identität von Asylsuchenden. Selbst bleiben sie anonym, um vor Druckversuchen geschützt zu sein. Niemand weiss, wer die Gutachten macht – ausser das SEM und die Gerichte. 

Doch wie lässt sich prüfen, ob die Gutachter wirklich unabhängig sind und gute Arbeit leisten? Die Analyse eines Experten mit dem Kürzel AS19 über einen jungen Tibeter sorgte vor zwei Jahren für Kritik. AS19 äusserte Zweifel daran, dass der junge Mann in Tibet sozialisiert worden sei. Das führte zur Ablehnung des Asylgesuches. Asyl bekommen nämlich seit rund zehn Jahren nur diejenigen, die beweisen können, dass sie direkt aus Tibet in die Schweiz kamen und sich nicht längere Zeit in den grösseren Diaspora-Gemeinschaften in Indien oder Nepal aufhielten.

Aus Versehen war aber ein vollständiges Gutachten an den Asylsuchenden geschickt worden statt nur wie sonst üblich die Zusammenfassung. Der Rechtsvertreter des Tibeters, der pensionierte Lehrer Benno Straumann, schickte das Dokument prompt einer Gruppe von Tibetologie-Professorinnen zur Beurteilung weiter. Diese kritisierten AS19 scharf. In einer Gegenanalyse wiesen sie auf «nicht akzeptierbare Fehler» und «substanzielle Defizite» hin. Die Schlussfolgerung sei falsch, der Mann sehr wohl aus Tibet.

Nichts zu beanstanden

Benno Straumann beschloss, beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde einzureichen. Er warf AS19 unklare Qualifikationen und eine mangelhafte Arbeitsweise vor. Der Beobachter berichtete

Nun ist das Urteil da: Das Bundesverwaltungsgericht kommt zum Schluss, dass die Fachkompetenz von AS19 nicht zu beanstanden ist. «Die sachverständige Person erscheint fachlich geeignet, wobei sie ihre Sorgfaltspflicht ernst nimmt sowie neutral und unabhängig ist», heisst es in der Medienmitteilung. Zudem stellt das Gericht fest, dass die Methode der SEM-Abteilung Lingua besten Standards entspricht. 

Das SEM kommentiert den konkreten Fall nicht. Ein Sprecher sagt aber, dass man nun generell analysieren müsse, ob aus dem Urteil Handlungsbedarf entstehe. 

Der unterlegene Benno Straumann äussert Kritik am Gericht. In der Zwischenverfügung vom Februar 2022 habe das Gericht das SEM aufgefordert, die Identität der sachverständigen Person AS19 offenzulegen, weil es sonst die Vorwürfe gar nicht beurteilen könne. Das Gericht hat aber schon früher mehrere Urteile basierend auf Gutachten von AS19 gefällt. «Das heisst also, dass das Gericht in den vorangegangenen Urteilen die Gutachten von AS19 ohne Kenntnis seiner Identität akzeptiert hat», sagt Straumann. «Wenn das Gericht die Beschwerde jetzt gutgeheissen hätte, hätte das die Rechtsprechung der letzten zehn Jahre in Frage gestellt. Dazu war das Gericht offensichtlich nicht bereit.»

Referenzurteil für viele weitere Fälle

«Der bürgerliche Name von AS19 ist für das Bundesverwaltungsgericht sekundär», erwidert Mediensprecher Rocco Maglio. Das Gericht sei davon ausgegangen, den echten Namen von AS19 bereits zu kennen. Es habe dann aber feststellen müssen, dass dieser Name falsch war. Dass Lingua falsche Namen für die Anonymisierung von Berichten verwendet, wird denn auch im Urteil kritisiert. «Aber man wusste vorher und man weiss jetzt, was die Person kann und wie sie arbeitet, was also ihr Werdegang und ihre Fachkenntnisse sind. Und das ist fürs Gericht relevant.» Zudem sei es fürs Gericht nachvollziehbar, dass die Person zum eigenen Schutz alles dafür tue, anonym zu bleiben.

Das Urteil ist ein Referenzurteil, das heisst, es ist anwendbar auf alle ähnlich gelagerten Fälle. Von denen gibt es einige, sagt Benno Straumann. Er überlegt sich, ob er den  Fall  an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weiterziehen soll. 

Benno Straumann ist auch aus menschlicher Sicht erschüttert über das Urteil: «Für den jungen Mann bedeutet das, dass er nicht mehr arbeiten darf und seine Lehre als Polymechaniker ein Jahr vor Lehrabschluss abbrechen muss.» Er müsse theoretisch die Schweiz verlassen, aber die Behörden könnten ihn praktisch weder nach Tibet, also China, noch nach Nepal oder Indien ausschaffen. «Eine unmögliche Situation, wie auch für viele andere Menschen aus Tibet, die deswegen illegal und unter prekären Bedingungen in der Schweiz ausharren.»