Benno Straumann wartet. Im solothurnischen Erlinsbach, wo er wohnt, ist es an diesem Frühlingstag ruhig und beschaulich. Ganz anders in seinem Inneren. Da brodelt die Ungeduld.



Straumann wartet schon länger als ein Jahr auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts. Ein Entscheid, der weitreichende Konsequenzen haben könnte, wenn es um die Abklärung der Herkunft von Asylsuchenden geht. Wie die Richterinnen und Richter im 130 Kilometer entfernten St. Gallen über seine Beschwerde entscheiden werden, darüber kann er nur spekulieren.   

Während er erzählt, zitiert er mühelos auswendig Gesetzesartikel. Der Mann hat schon etliche Beschwerden geschrieben, aber Anwalt ist er nicht. Der fast 80-Jährige war Lehrer an der Kantonsschule Aarau, unterrichtete Englisch, Geschichte und Gesellschaftskunde. Sechs Jahre hielt er es aus, pensioniert zu sein. Fuhr viermal mit dem Velo nach England. Wanderte mit seiner Frau. Hackte Holz für seine Heizung.

Dann nahm das Leben einen unerwarteten Rank, und heute kann er einem potenziellen Erfolg vor Gericht entgegenfiebern. «Es hängt jetzt alles an diesem AS19-Entscheid», sagt Straumann.

Anonyme Expertinnen und Experten

Was ist AS19? Hinter diesem Pseudonym versteckt sich ein Experte oder eine Expertin der Abteilung Lingua des Staatssekretariats für Migration (SEM). Die Fachstelle macht Abklärungen bei Asylsuchenden, die keine Identitätspapiere haben oder bei denen es Zweifel an ihrer Herkunft gibt. Über 80 Fachleute für etwa 70 Sprachen hat Lingua zur Verfügung, heisst es auf der Website des SEM. 

Aber: Niemand weiss, wer diese Expertinnen und Experten sind. Um ihre Sicherheit zu gewährleisten und sie vor Druckversuchen zu schützen, hält das SEM ihre Identität geheim. Diese fehlende Transparenz sorgt für Kritik. Besonders, weil die Lingua-Gutachten vor Gericht viel Gewicht haben. Ihnen wird eine erhöhte Beweiskraft zugemessen. Umso wichtiger ist die Qualität. Aber diese Berichte kennt abgesehen vom SEM und den Gerichten niemand, da die Asylsuchenden nur Zusammenfassungen davon erhalten. 

Weil dem SEM ein Fehler unterlaufen war, landete im Sommer 2020 trotzdem ein vollständiges Gutachten über einen tibetischen Asylsuchenden in einem Couvert bei Benno Straumann. Er liess das Dokument von renommierten Tibetologie-Professorinnen und -Professoren analysieren. Deren Kritik fiel vernichtend aus . Sie identifizierten eine ganze Reihe «nicht akzeptierbarer Fehler» und «substanzieller Defizite». Eine der Expertinnen deutete in der NZZ an, dass der Lingua-Experte AS19 sehr chinafreundlich wirke. Das SEM weist die Vorwürfe zurück. Man habe die Kritikpunkte eingehend geprüft und sehe keinen Anlass, an der Kompetenz oder Integrität der sachverständigen Person AS19 und am Resultat ihrer Analyse zu zweifeln. 

Wer AS19 ist, weiss Straumann weiterhin nicht. Auch die Professorinnen und Professoren rätseln bis heute, wer das sein könnte, denn die Tibetologie-Szene ist klein. 

Gericht will grundsätzliche Klärung

Benno Straumann reichte im Namen des Tibeters Beschwerde gegen das SEM und das Lingua-Gutachten beim Bundesverwaltungsgericht ein. Begründung: Die sachverständige Person AS19 habe unklare Qualifikationen und weise eine mangelhafte Arbeitsweise auf. 

Was das Gericht in einer Zwischenverfügung vom 14. Februar 2022 schrieb, war bemerkenswert: Es «wurde bis anhin davon ausgegangen, dass die Identität der sachverständigen Person dem Gericht bekannt ist. Dies basiert auf dem Grundsatz, dass das Gericht eine Beurteilung der aufgeworfenen Vorwürfe aus eigener Wahrnehmung vornehmen können muss.» Was soll das heissen? Wusste das Gericht etwa nicht, um wen es sich bei dem Experten handelt, obwohl dessen Gutachten entscheidende Beweise in vielen Asylverfahren waren? 

Von den vorliegenden Rügen seien Zuverlässigkeit, Objektivität und Neutralität von AS19 betroffen, heisst es in der Zwischenverfügung weiter. «Das Gericht beabsichtigt, diese Einwände im vorliegenden Verfahren im Sinne eines Piloturteils und in grundsätzlicher Weise zu klären.» Das SEM musste dem Gericht daraufhin bis zum 1. März 2022 Informationen zu AS19 liefern. Und jetzt seit über einem Jahr: Funkstille. 

«Das ist vermutlich verwirrend für Sie!», lacht Benno Straumann. Trotz des ernsten Themas blitzt ihm der Schalk immer wieder aus den Augen. Gerade hat er in hohem Tempo von vielen Schicksalen aus dem Asylwesen erzählt, mit denen er in irgendeiner Art und Weise in Berührung gekommen ist. Es sprudelt nur so aus dem eigentlich ruhigen, fokussierten Mann heraus. Er berichtet von Menschen mit gesundheitlichen Problemen, von auseinandergerissenen Familien, von allein reisenden Minderjährigen. Von einer Frau, die mit Comics praktisch perfekt selbst Deutsch gelernt hat, oder einem jungen Mann, der sich als talentierter Plattenleger und Ofenbauer entpuppte. 

Auf Granit gebissen

Wie kommt der pensionierte Lehrer überhaupt dazu, all diesen Menschen zu helfen? Den Bund vor Gericht zu zerren? Gegen einen anonymen Experten des SEM vorzugehen?

Alles begann 2015. Nach sechs Jahren Rentnerleben fing Straumann an, freiwillig an einer Schule für unbegleitete minderjährige Asylsuchende zu unterrichten. Zusammen mit seiner Frau, die ebenfalls Lehrerin gewesen war. Bald half er nebenbei ein paar Personen, Härtefallgesuche einzureichen und Beschwerden zu formulieren. Am Anfang indirekt, mit der Hilfe von ausgebildeten Anwälten. «Ich bin dann einfach irgendwie zur Anlaufstelle geworden», sagt Straumann. 

Schliesslich vertrat der nimmermüde Rentner gegenüber Behörden und Gerichten Menschen aus allen möglichen Orten. Aus Tschetschenien, Afghanistan, Iran, Irak, Syrien, Eritrea, Äthiopien, Tibet. Die meisten lernte er in der Schule kennen. Bald schrieb er die juristischen Eingaben selbst. «Es waren sehr viele Fälle. Aber Tibeter standen mit der Zeit im Zentrum, weil dort systematisch gemauert wird», sagt er. Anders als bei Fällen aus anderen Herkunftsländern habe er mit diesen bei den Behörden immer auf Granit gebissen. Sie glaubten den Menschen nicht, dass sie aus Tibet kommen.

Benno Straumann führt mehrere Verfahren, bei denen es um Herkunftsnachweise und Zweifel an der Arbeit von AS19 geht. Viele sind noch hängig, weil man auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts wartet. Was, wenn das Gericht mit der Qualität der Arbeit von AS19 nicht einverstanden ist? Werden dann vergangene Fälle neu aufgerollt? Alles sei heute noch offen, sagt Straumann. 

Lebensläufe mit Ungereimtheiten

«Das ganze Lingua-System ist eine Blackbox. Ich fische im Dunkeln. Wenn ich irgendwo ein Schnürchen packen kann, ziehe ich daran und schaue, was hervorkommt», sagt der Rentner. Es sei wahnsinnig arbeitsintensiv. «Kein Anwalt kann es sich leisten, so viel Aufwand zu betreiben.» 

Mittlerweile kennt Straumann die Tibet-Fachleute von Lingua recht gut, ohne ihre tatsächliche Identität zu kennen. Er hat nämlich irgendwann begonnen, alle Behauptungen in den Zusammenfassungen der Berichte zu überprüfen. Zum Beispiel ganz simpel auf einer Landkarte nachzuschauen, ob das alles Sinn ergibt, was da steht. Je mehr Menschen er bei Aufenthaltsbewilligungen, Härtefallgesuchen oder Beschwerden unterstützte, desto mehr Akten, Kurzberichte und Informationen sammelte er. Neben AS19 gibt es auch noch AS20 und TAS09. Aber wie viele Personen verstecken sich tatsächlich dahinter? Ungereimtheiten machten ihn stutzig. 

Mit den Berichten werden jeweils anonymisierte Kurzlebensläufe der Experten mitgeliefert. Zu TAS09 hat Straumann zwei verschiedene vorliegen, von 2013 und von 2016. «Sie widersprechen sich sogar. Im einen Lebenslauf heisst es, die Person sei in Westchina aufgewachsen, im anderen in Tibet. Vermutlich nimmt man einfach die Version, die gerade am besten passt.» Das österreichische Bundesverwaltungsgericht nenne die Fachleute mit vollem Namen. Weshalb in der Schweiz ein Staatsgeheimnis darum gemacht werde, verstehe er nicht. 

Happige Vorwürfe ans Gericht

Benno Straumann schätzt, dass AS19 etwa 150 Herkunftsanalysen gemacht hat, die dann vor Gericht als Entscheidungsgrundlage dienten. Dem Bundesverwaltungsgericht macht er heftige Vorwürfe: «Sie haben zehn Jahre lang Urteile gefällt, ohne den Experten und dessen Qualifikation zu kennen, ohne das je abgeklärt zu haben. Damit haben die Richterinnen und Richter ihre Pflichten in schwerwiegendem Ausmass verletzt.» Das Gericht will sich weder zu diesen Vorwürfen äussern noch zum laufenden Verfahren. 

Dem Rentner lässt die Geschichte rund um die Abteilung Lingua keine Ruhe. Dabei hätte er genug anderes zu tun: Er pflegt seine Frau zu Hause, die vor einigen Jahren an Demenz erkrankt ist. 

Aber das Engagement für andere steckt tief in seinen Knochen. In Erlinsbach, wo er geboren wurde, war er früher SP-Gemeinderat und hat neben seinem Beruf mehrere Jahre die Vormundschaftsbehörde geleitet. Politisiert wurde er 1963 als junger Stipendiat in den USA. Das Thema der Stunde waren die Bürgerrechte, Martin Luther King hielt seine berühmte Rede in Washington D. C. am Tag nach seiner Ankunft in den Staaten. Diese Zeit prägte ihn für den Rest seines Lebens, sagt Benno Straumann. «Es kann einem ja nicht gleichgültig sein, was auf diesem eigenartigen Planeten mit den Menschen passiert.»

Zurzeit muss sich der Macher in Geduld üben. Genauso wie der Tibeter, dessen Herkunftsanalyse alles losgetreten hat. Bis das wichtige Urteil kommt, bleibt ihnen nur eines: zu warten.