Ein alkoholkranker Mann versuchte, seine Frau und seine Tochter umzubringen. Doris Maeder ist die Enkelin dieses Mannes – und wusste bis vor wenigen Wochen nichts von dem tragischen Vorfall. Bis eine Tante ihr davon erzählte. Jetzt versteht die 52-Jährige ein Stück weit besser, woher ihre ständige Angst und ihre chronischen Schmerzen Gut Altern «Chronische Schmerzen sind nie nur körperlich» kommen könnten. 

Denn ein Trauma kann sich auf die nächste Generation übertragen: Wenn Eltern oder Grosseltern um ihr Leben fürchten mussten und sie die Ereignisse nicht bewältigt haben, zeigen sich Symptome der Traumatisierung bei Kindern und Enkelkindern. Beim transgenerationalen Trauma geht es um Leben und Tod – um existenzielle Angst. Sie wird an nachkommende Generationen weitergereicht.

Riesige Angst vor dem Einschlafen

«Für mich fühlt sich alles nach Gefahr an», sagt Doris Maeder. Sie leidet unter Schlaflosigkeit . Doch Schlafmittel nimmt sie nicht, weil sie ohnehin gegen sie ankämpfen würde – zu gross ist ihre Angst vor dem Einschlafen. Ihre psychische Verfassung ist derart schlecht, dass sie nicht arbeiten kann. Sie will alles dafür tun, die gewaltsame Familiengeschichte zu verarbeiten. «Um meinen eigenen Kindern oder deren Kindern das gleiche Schicksal zu ersparen», sagt sie. 

Wie bei allen Arten von Traumata haben Betroffene heftige negative Gefühle wie Angst und Wut. «Das Spezielle beim transgenerationalen Trauma ist, dass es keine Ereignisse gibt, die diese Gefühle und ihre Intensität erklären könnten», sagt Anette Lippeck. Die Psychologin beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit diesem Thema und hat eine Praxis in Stans NW. Weil die Symptome keine klare Ursache haben, bekommen Betroffene oft andere Diagnosen gestellt. Dabei wiesen Studien in den USA bereits in den 1970er-Jahren auf die Vererbbarkeit von traumatischen Erfahrungen hin. Seit rund zwei Jahrzehnten wird das Thema eingehender erforscht.

Was kann auf ein vererbtes Trauma hinweisen? 

  • Ein oder mehrere Themen, die in der Familie als Tabu gelten. Wenn man sie anspricht, reagieren Verwandte irritiert und wollen nicht darüber sprechen. 

  • Traumatische Erfahrungen von Eltern und Grosseltern, wie Naturkatastrophen und Krieg, aber auch schwerwiegende Unfälle und andere einschneidende Lebenserfahrungen. 

  • Familienereignisse, die Jahrzehnte zurückliegen, aber besonders häufig und auffallend emotional angesprochen werden – traurig, wütend oder enttäuscht. 
     
  • Über Jahre anhaltende und scheinbar unbegründete starke Emotionen oder  Stimmungsschwankungen von Eltern und Grosseltern, wie extremer Zorn oder häufiges Weinen.  

Gene ein- oder ausschalten

Spezialistinnen wie Isabelle Mansuy an der Universität Zürich erklären mithilfe der Epigenetik, weshalb Angst und Schmerz vererbt werden können. Ein Trauma kann bestimmte Gene ein- oder ausschalten. Diese Gene können in diesem Zustand an die nächste Generation weitergegeben werden – zumindest könne man das in einem Experiment mit Mäusen nachweisen. Man gab ihnen Kirschduft zu riechen und versetzte ihnen gleichzeitig Stromstösse. Die Mäuse entwickelten Angst vor dem Geruch und gaben diese an ihren Nachwuchs und sogar an die Enkelgeneration weiter. Auch sie reagierten ängstlich auf den süssen Duft – obwohl sie den Stromstössen nie ausgesetzt waren. 

Aus evolutionärer Sicht haben epigenetische Veränderungen einen Sinn: Sie sollen die Nachkommen auf eine Umwelt vorbereiten, in der sich bereits ihre Eltern und Grosseltern behaupten mussten – und dem Nachwuchs damit das Leben erleichtern. Doch beim vererbten Trauma passiert das Gegenteil. Da leiden die Nachkommen unter der Todesangst Psychologie «Ich habe Angst vor dem Tod» , die sich in die Psyche ihrer Vorfahren eingraviert hat. Wie genau der Prozess der Vererbung auf biochemischer Ebene vor sich geht, stellt die Forschung noch vor Rätsel. Es gibt Anzeichen dafür, dass Traumata vor allem über die mütterliche Linie weitergereicht werden.

«Meistens gebe ich dem Traumabegleiter die Hände, das gibt mir Halt.»

Doris Maeder, Patientin

Die psychische Verletzung ist heilbar. Es gibt verschiedene therapeutische Optionen Psychotherapie Wer kann mir durch die Krise helfen? . Etwa die traumazentrierte Einzeltherapie, die narrative Expositionstherapie und das Erstellen und die Auseinandersetzung mit einer Ahnengalerie. Eine Therapie kann auch dann Erfolg haben, wenn die Vorfahren, die das Trauma ursprünglich erlebt haben, nicht mehr am Leben sind. Psychologin Anette Lippeck rät, sich gerade zu Beginn der Therapie emotional nicht zu überfordern. «Ich würde zum Beispiel am Anfang keine Familienaufstellung empfehlen, denn die braucht eine stabile psychische Verfassung», erklärt sie. 

«Ich muss Gedanken und Gefühle loswerden, um zu überleben»

Doris Maeder arbeitet wöchentlich mit einem Traumabegleiter. Was passiert in den Sitzungen? Manchmal müsse sie bestimmte Gedanken und Gefühle sehr dringend aussprechen. «Ich muss sie loswerden, um zu überleben», erklärt sie. Da hört der Therapeut zu. Etwa wenn Doris Maeder erneut fürchtet, dass Menschen, die sie liebt oder ihr sehr wichtig sind, plötzlich verschwinden. «Jeder Abschied bedeutet für mich Bedrohung. Todes- und Verlustangst löst das bei mir aus», sagt sie. Da hilft der Traumabegleiter. Er zeigt ihr, dass er nicht verschwindet, sondern für sie da ist. «Meistens gebe ich ihm die Hände, das gibt mir Halt», sagt Doris Maeder.

Hilfe bei Traumata

Welcher therapeutische Ansatz am besten geeignet ist, können Betroffene gemeinsam mit Fachleuten festlegen. Es gibt Psychologinnen und Psychologen, die auf Traumata spezialisiert sind.

Mögliche Anlaufstellen: 

promentesana.ch

psychologie.ch/psychologen-finden/was-brauche-ich

Der Beobachter-Newsletter – wissen, was wichtig ist.

Das Neuste aus unserem Heft und hilfreiche Ratgeber-Artikel für den Alltag – die wichtigsten Beobachter-Inhalte aus Print und Digital.

Jeden Mittwoch und Sonntag in Ihrer Mailbox.

Jetzt gratis abonnieren