Dass ich 20 Meter hohe Steilwände erklimme, hätte mir früher niemand zugetraut, denn ich habe seit Geburt nur einen Arm. Mein Leben lang hörte ich, was ich alles nicht kann. Ich musste lernen, diese Stimmen zu ignorieren.

Zum Glück haben mich meine Eltern zum Sport ermutigt. Als Kind bin ich geritten und habe Leichtathletik gemacht. Nur vom Snowboarden musste ich sie zuerst überzeugen. Ihre Sorge: «Wenn du dir das Handgelenk brichst, bist du aufgeschmissen.» Mit 17 Jahren bekam ich Rückenprobleme, die sich über den ganzen Körper ausbreiteten. Für fast zehn Jahre war es das dann mit Sport.

Bis mich eine Freundin zum Bouldern einlud, Klettern auf Absprunghöhe. «Ob das was wird mit einem Arm?» Mit flauem Magen ging ich mit.

Der Tag hat mein Leben verändert. Auf winzigen Tritten und Griffen musste ich mir meinen Weg nach oben bahnen. Zu meiner Verwunderung gelang es mir. Am nächsten Tag hatte ich den schlimmsten Muskelkater meines Lebens – ein fantastisches Gefühl. Seitdem bin ich beim Klettersport geblieben. Meine Rückenprobleme gehören der Vergangenheit an.

Die erste Athletin im Nationalteam

Aus heiterem Himmel erhielt ich eine Nachricht von Plusport, der Dachorganisation des Schweizerischen Behindertensports. Ob ich dem Schweizer Paraclimbing-Nationalteam beitreten wolle. «Logisch!»

Paraclimbing, das ist Klettern für Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung. Mit mir hat das Team seine erste Athletin gewonnen, seither sind wir explosionsartig gewachsen.

Heute sind wir 15 Leute mit den unterschiedlichsten Behinderungen. Einigen fehlt ein Arm. Andere haben eine Sehbehinderung. Wieder andere sind vom Rumpf an abwärts gelähmt. Entsprechend gibt es über zehn verschiedene Wettkampfkategorien im Paraclimbing.

Der Schweizer Alpen-Club macht heute viel Werbung, um Menschen mit Behinderung zum Klettern einzuladen. Schade, dass er das nicht früher gemacht hat. Es wäre toll, wenn Paraklettern auch als Breitensport Fuss fassen würde. Denn bei vielen Menschen ist die Behinderung zu schwach oder zu stark für die Teilnahme an Wettkämpfen.

Kindliche Neugier statt Vorurteile

Leider schlägt uns viel Unverständnis entgegen. Als ich einmal eine schwere Route meisterte, hörte ich jemanden sagen: «Wenn die das kann, schaffen wir das locker.» Einige Eltern fordern ihre Kinder sogar auf, nicht hinzuschauen, wenn ich oder jemand aus meinem Team klettert. Als wäre das etwas Schlimmes. 

Im O’Bloc in Ostermundigen kennen mich inzwischen alle, in anderen Kletterhallen werde ich schräg angeguckt. Die Leute sagen: «Das geht nicht mit einem Arm.»

Es geht eben doch. Ich muss nur etwas kreativer sein und einen weiteren Fusstritt nehmen. Wenn ich dann losklettere, steht den Leuten der Mund offen.

«Bitte baut nicht Barrieren auf, wo keine sein müssten.»

An jene Menschen habe ich eine Bitte: Wenn ihr etwas wissen wollt, fragt mich einfach. Oder schaut mir zu, wie ich eine Route klettere. Bitte baut nicht Barrieren auf, wo keine sein müssten.

Vielleicht hilft kindliche Neugier. Ein kleines Kind hat mich mal lieb gefragt, warum ich Tape an meinem Arm habe. «Um die empfindliche Haut vor Verletzungen zu schützen.» Ein anderes war begeistert, mich mit einem Arm klettern zu sehen. 

Jetzt steht die grösste Herausforderung meines Lebens bevor: die Weltmeisterschaft im Paraclimbing. Und das Beste ist – sie findet direkt vor meiner Haustür statt.

Plötzlich erkennen mich fremde Menschen auf der Strasse. Einmal hat mich eine ältere Frau im Tram angestrahlt. Irritiert habe ich mich umgedreht. Da hing ein Paraclimbing-Plakat mit mir drauf.

Aufgezeichnet von Felix Ertle

Kletter-WM in Bern

Die Sportkletter- und Paraclimbing-Weltmeisterschaften finden vom 1. bis 12. August in Bern statt. Vom 8. bis 10. August treten die Para-Athleten an. www.bern2023.org