«Ich habe noch nie einen so speziellen Moment erlebt am Gerichtshof. Das war aussergewöhnlich!» sagt Corina Heri, Rechtswissenschaftlerin an der Uni Zürich. Man spürt ihre Aufregung übers Telefon. Vor Ort in Strassburg herrscht grosser Medienrummel, Greta Thunberg ist da, alle Augen aber sind heute auf die Schweizer Klimaseniorinnen gerichtet – 2023 für den Prix Courage des Beobachters nominiert. 

Sie haben 2016 den Bund verklagt. Grund: Er schütze sie zu wenig vor den Auswirkungen des Klimawandels. Sie blitzten vor allen Instanzen ab und zogen weiter vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Am 9. April 2024 war es so weit: Die 17 Richterinnen und Richter der Grossen Kammer haben als erstes internationales Gericht überhaupt über eine Klimaklage entschieden: Die Schweiz tut tatsächlich zu wenig im Kampf gegen den Klimawandel und verletzt damit Menschenrechte. Unter anderem auch das Recht auf ein faires Verfahren. Das Gericht rügt die Schweiz und die Schweizer Gerichte: Sie hätten die Beschwerde nicht ernst genommen und wissenschaftliche Beweise nicht berücksichtigt. 

Corina Heri war schon vor einem Jahr bei der Anhörung der Klimaseniorinnen in Strassburg dabei. Sie erforscht seit Jahren, wie Gerichte bei Klimaklagen zu gerechten Urteilen finden können. Zusammen mit Helen Keller, die früher Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte war, hat sie das «Climate Rights and Remedies»-Projekt und eine Datenbank aufgebaut, in der laufend Klimaklagen aus aller Welt gesammelt und analysiert werden. 

Was ist am jetzigen Verdikt so speziell? Expertin Corina Heri schätzt für den Beobachter das historische Urteil ein:

Beobachter: Frau Heri, haben Sie dieses Resultat erwartet?
Corina Heri: Nein, es war recht unerwartet. In der Vergangenheit war das Gericht eher restriktiv, wenn es um die Klagemöglichkeit von Vereinen in Umweltfällen ging. Wir gingen deshalb davon aus, dass man damit nicht durchkommt – und wenn schon, dass eher Einzelpersonen Chancen auf Erfolg haben. Aber es ist ein gescheiter strategischer Entscheid des Gerichtshofs und ein Signal für weitere Klagen. Er sagt damit im Prinzip: Wir wollen die Fälle gebündelt haben und über den Grundsatz entscheiden. Das ist sehr spannend. Und wird viele Organisationen dazu motivieren, ähnliche Klagen zu starten. 

Was sind die wichtigsten Signale?
Der Gerichtshof hat festgehalten, dass er offen ist für Klimafälle. Und er hat gezeigt, wie diese aussehen sollen, damit sie Erfolg haben in Strassburg. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte will das innerstaatlich gelöst haben und sagt, dass die Gerichte das Thema ernster nehmen sollen. Aber: Wenn es in den Staaten nicht klappt, kann man nach Strassburg kommen, und man kann bei Fragen zum Klimawandel gewinnen. Man darf nicht vergessen: Vor heute war alles offen, der Gerichtshof hätte auch anders entscheiden können. Dass er sich für zuständig erklärt, stärkt den Rechtsschutz enorm. 

Hat dieses Urteil eine Auswirkung auf die Schweiz, oder ist es nur symbolisch?
Das kann man nicht ignorieren, das Urteil ist kein Dokument für die Schublade. Die Schweiz als Mitglied des Europarats muss umsetzen, was der Gerichtshof entscheidet. Die Erfahrung zeigt auch, dass die Schweiz das meist zeitnah und gründlich tut. 

Was passiert denn jetzt konkret? 
Die Schweizer Behörden müssen einen Plan ausarbeiten, wie sie das Urteil umsetzen wollen. Es gibt keine konkreten Anweisungen, dass man etwa ein bestimmtes Gesetz anpassen müsste. Das war auch nicht zu erwarten. Der Gerichtshof versucht, Staaten immer so viele Freiräume wie möglich zu lassen. Diese Offenheit ist ein Vorteil, damit können Urteile so demokratisch legitimiert wie möglich ins Recht einfliessen. Die Schweiz muss ihren Plan aber dem Ministerrat des Europarats kommunizieren. Ich könnte mir schon vorstellen, dass es einen Einfluss auf Gesetze haben wird, in denen es um den Klimaschutz geht, wie etwa das CO2-Gesetz.

Und was bedeutet das für die Schweizer Gerichte?
Für innerstaatliche Verfahren wird das ebenfalls Auswirkungen haben. Also darauf, wer klagen kann und gegen wen und weshalb. Es war ja nicht einfach, den Schweizer Fall überhaupt vor unsere nationalen Gerichte zu bringen. Der Europäische Gerichtshof hat auch gesagt: Ihr habt das nicht ernst genommen, das geht so nicht.

Die ganze Welt schaute heute nach Strassburg und verfolgte den Fall mit. Wieso ist das Urteil auch für andere Länder relevant?
Direkt betrifft es natürlich nur die Schweiz. Aber andere Staaten wissen jetzt: Wenn bei uns ein ähnlicher Fall kommt, verlieren wir ihn in Strassburg, wenn wir uns so verhalten wie die Schweiz. Das hat also Auswirkungen auf alle Verfahren in allen Mitgliedsstaaten des Europarats. Überall dort, wo die Europäische Menschenrechtskonvention angewandt wird. Die Richter in allen 46 Staaten müssen das Urteil anschauen und ihre Schlüsse daraus ziehen. Es ist übrigens auch rückwirkend eine Legitimation für Gerichtsurteile, zum Beispiel in den Niederlanden und in Belgien, wo nationale Gerichte Klimaklagen in den letzten Jahren recht gaben, die mit der Menschenrechtskonvention argumentierten. Wenn das Urteil anders rausgekommen wäre, hätte man dort sonst nochmals über die Bücher gehen müssen.