Die Zeiten ändern sich – und mit ihnen die Schlagzeilen. «Der Versuch der alten Damen», titelte der «Tages-Anzeiger» zum Sommeranfang 2016. «Wenn eine Oma den Staat verklagt», schrieb das «Migros-Magazin», und die «Basler Zeitung» machte gar «grünen Wahnsinn» aus. Die Häme über eine Gruppe Seniorinnen, die den Bundesrat verklagt, weil er sie nicht genügend gegen die Folgen des Klimawandels schützt, quoll förmlich zwischen den Zeilen hervor. 

«Man hat uns zu Beginn nicht richtig ernst genommen. Aber das war für uns nicht so schlimm», sagt Rosmarie Wydler-Wälti, heute das Gesicht der Klimaseniorinnen. «Aber dass man uns lange Zeit einfach ignoriert hat, das nagte schon ein wenig. Immerhin haben wir den Bundesrat verklagt!»

Knapp sieben Jahre und einige erwartete Rückschläge später, im Frühling 2023, wird eine Reise der einst belächelten alten Damen zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zum Medienereignis. SRF berichtet in der Hauptausgabe der «Tagesschau», und alle grossen Zeitungen und Onlinemedien haben Reporterinnen geschickt. Selbst die ARD, die «Süddeutsche Zeitung» und «Al Jazeera» haben schon über die Schweizer Klimaseniorinnen berichtet. Die haben mittlerweile fast 2500 Mitglieder und sind gerade daran, Geschichte zu schreiben. Die Fahrt nach Strassburg zur Anhörung vor dem EGMR ist der vorläufige Höhepunkt.

Durch alle Instanzen

Sommer 2023, ein Wohnzimmer in einem Basler Aussenquartier. Auf dem Sofa stapeln sich Bücher über Klimawandel, Energiewende und Feminismus, auf dem Fensterbrett stehen Zimmerpflanzen, in einer Ecke wartet ein Spielzeuglastwagen auf ein Kind. Nur wenig deutet darauf hin, dass aus diesem Wohnzimmer heraus vielleicht gerade die europäische Klimapolitik revolutioniert wird. Und dass Rosmarie Wydler-Wälti, 73, vierfache Mutter und achtfache Grossmutter, ehemalige Kindergärtnerin sowie Erziehungs- und Paarberaterin, als Co-Präsidentin der Klimaseniorinnen einer der führenden Köpfe dieser Revolution ist. 
Wer in der Schweiz ein politisches Anliegen durchsetzen will, kann eine Volksinitiative lancieren und hoffen, dass das Stimmvolk Ja sagt. Der Weg ist etabliert, aber steinig, und die Erfolgsaussichten sind bestenfalls mässig.

«Ich mache das nicht für mich. Ich verstehe mich als Beauftragte für all die älteren Frauen, die unter den Folgen des Klimawandels leiden.»

Rosmarie Wydler-Wälti, Klimaseniorin

Die Landesregierung zu verklagen, ist hingegen gelinde gesagt eine kühne Idee. Die Klimaseniorinnen haben es getan. Als sich der Bundesrat für nicht zuständig erklärte, gelangten sie ans Bundesverwaltungsgericht. Dann ans Bundesgericht. Und schliesslich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Dort wird ihre Klage gegen die Schweiz nun von der Grossen Kammer behandelt, und das sagt einiges: Das höchste Gremium des Gerichts behandelt nur diejenigen Fälle, die für die Rechtsprechung in Europa oberste Priorität haben. Geboren wurde die Idee für eine Klage 2015 am Schweizer Sitz von Greenpeace. Die Umweltorganisation suchte nach neuen Möglichkeiten, um Bewegung in die Klimapolitik zu bringen. Greenpeace beauftragte deshalb zwei Anwältinnen damit, die Möglichkeiten einer Klage in der Schweiz abzuklären. Eine solche führen kann jedoch nur, wer eine besondere Betroffenheit nachweisen kann.

Die Anwältinnen wälzten deshalb Studien und Paragrafen und kamen schliesslich auf eine simple, gut zu vermittelnde Argumentationslinie: Der Klimawandel bringt mehr Hitzewellen, und unter diesen Hitzewellen leiden besonders ältere Frauen ab 75. Dass in sehr heissen Sommern mehr Frauen sterben, ist statistisch erwiesen – auch in der Schweiz. Eine neue Studie der Bundesämter für Gesundheit und für Umwelt zeigt, dass im heissen Sommer 2022 insgesamt 474 Menschen über 75 an den Folgen der Hitze starben. 60 Prozent von ihnen waren Frauen.

«Ein Geschenk für mich»

Thema und Stossrichtung für eine Klage waren damit gefunden. Alles, was noch fehlte, waren Klägerinnen im Pensionsalter. Jüngere Frauen und Männer waren nicht gefragt, da der Klage nicht dienlich. Bei der «Grossmütterrevolution», einer Art Thinktank für ältere Frauen, stiessen die Umweltschützer auf Rosmarie Wydler-Wälti, und diese sagte nach einem Gespräch mit dem Greenpeace-Campaigner zu, sich als Co-Präsidentin des Vereins Klimaseniorinnen wählen zu lassen. «Ich habe das Amt nicht gesucht, es ist mir in den Schoss gefallen. Aber ich würde sofort wieder Ja sagen. Die Aufgabe ist ein Geschenk für mich, sie erfüllt mich.» 

Die Umweltorganisation führt das Sekretariat der Klimaseniorinnen und sorgt für die notwendigen Geldmittel, denn die Klagen sind nicht billig. Rund eine Million Franken kostete der Gang durch die Instanzen bisher.  

Dass die Wahl gerade auf sie fiel, hat auch mit Wydler-Wältis Vergangenheit zu tun. In jungen Jahren engagierte sie sich gegen das AKW Kaiseraugst und war bei entwicklungspolitischen und feministischen Gruppen aktiv. Das Reaktorunglück in Tschernobyl und die Katastrophe von Schweizerhalle 1986 bestärkten sie in ihrem Engagement. «Dass der Mensch der Umwelt so schadet, dass Kinder nicht mehr draussen spielen können, war ein schreckliches Erlebnis.»

Parteipolitik ist ihr fremd

Politisch war Rosmarie Wydler-Wälti hingegen nie aktiv – ebenfalls eine gute Voraussetzung: Die Klimaseniorinnen sollen nicht als «grüne» Truppe daherkommen, sondern ältere Frauen aller politischer Couleur vertreten. 

«Ich mache das nicht für mich», sagt Rosmarie Wydler-Wälti: «Ich verstehe mich als Beauftragte für all die älteren Frauen, die unter den Folgen des Klimawandels leiden.» Genau so will sie auch ihre Nomination für den Prix Courage verstanden wissen: stellvertretend als eine von vielen älteren Frauen, die unter dem Klimawandel leiden und sich um die Zukunft sorgen. Schliesslich sei es ihre Generation, die jahrzehntelang Wachstum predigte.

«Millionen von Menschen haben wegen des Klimawandels nicht einmal das Notwendigste zum Überleben, und wir sorgen uns um unseren Wohlstand!»

Rosmarie Wydler-Wälti, Klimaseniorin

Und plötzlich wird die Frau, die bisher so ruhig in ihrem Sessel sass, zur Kämpferin: «Wir Babyboomer hatten es besser als unsere Kinder und Enkel. Wie können wir wagen, zu verlangen, dass unser Wohlstand auf Kosten der Jüngeren aufrechterhalten bleibt? Es ist doch skandalös: Millionen von Menschen haben wegen des Klimawandels nicht einmal das Notwendigste zum Überleben, und wir sorgen uns um unseren Wohlstand!» 

Genau deshalb setze sie sich für die Klimaklage ein, sagt die Seniorin. Und natürlich würden bei einem Sieg in Strassburg auch die Jungen profitieren, wenn Bundesrat und Parlament strengere Klimagesetze erlassen müssten: «Aber das sollte ich eigentlich nicht erwähnen, weil wir in unserer Klage nur mit der Gesundheit von älteren Frauen argumentieren.» Sie tuts trotzdem.

Gegner bezeichnen sie als «Hexe»

Nicht alle sind von der Idee begeistert, auf dem juristischen Weg die Klimapolitik des Bundes zu verändern. Vor allem Medien mit rechter Schlagseite arbeiten sich regelrecht an den Klimaseniorinnen ab. Die «Weltwoche» unkt, «die einst friedliebende Volksgemeinschaft» würde wegen solcher Klagen «im Dampfkessel» enden, «wo Ressentiments und Hass brodeln». Der «Nebelspalter» schreibt von einer «grossen Show» und dass es halt einfacher sei, «17 internationale Menschenrechtsaktivisten in einem Gerichtshof statt eine Mehrheit der Bevölkerung zu überzeugen».

Rosmarie Wydler-Wälti ficht solches nicht an. «Wir wurden auch schon als Hexen bezeichnet, die man auf dem Scheiterhaufen verbrennen sollte», sagt sie und lacht. «Ich nehme das als Kompliment, denn Hexen waren immer starke Frauen, die die Macht der Männer in Frage stellten.» 

Irgendwann in den kommenden Monaten werden die 17 Richterinnen und Richter der Grossen Kammer des EGMR entscheiden. Rosmarie Wydler-Wälti rechnet fest mit einem Sieg. «Wenn wir gewinnen, dann ist es ein dreifacher Sieg», sagt sie. «Für das Klima, für den Feminismus und für die Anti-Aging-Bewegung.»

Bühne frei für mutige Menschen

Der Prix Courage des Beobachters geht in eine neue Runde: Das Porträt der jungen Synchronschwimmerinnen, die Missstände in ihrem Verband publik gemacht haben, bildete den Auftakt einer Artikelserie. Die Serie beleuchtet neben den einzelnen Nominationen auch die weiteren Aspekte des Preises.

Verliehen wird der diesjährige Prix Courage, der inspirierende Menschen hinter mutigen Taten und unerschrockenem Handeln ins Zentrum stellt, am 9. November.

Davor werden die Leserinnen und Leser des Beobachters eingeladen, ihre Stimmen für die überzeugendste Kandidatur abzugeben. Das Publikumsvoting und die Einschätzungen der Jury entscheiden schliesslich über die Gewinnerin oder den Gewinner.

Die einzelnen Nominationen stellen wir in einer Artikelserie vor. Bisher erschienen: 

  • Kandidatur 1 – Aline Stettler, Anouk Helfer und Fabienne Nippel: Die Synchronschwimmerinnen machten fragwürdige Trainingsmethoden publik und prangerten Vergünstigungen bei den Wettkämpfen an. Dafür opferten sie ihre sportlichen Karrieren. 
  • Kandidatur 2 – Jonas Staub: Der frühere Sozialpädagoge und heutige Unternehmer kämpft unerbittlich seit bald zwei Jahrzehnten für mehr Selbstbestimmung von Menschen mit Beeinträchtigungen.
  • Kandidatur 3 – Sarah Ineichen und Celin Fässler: Die beiden Frauen wurden als Babys in die Schweiz gebracht. Als Erwachsene deckten sie einen Adoptionsskandal auf, über den die verantwortlichen Behörden lieber geschwiegen hätten.
  • Kandidatur 4 – Thomas Zumtaugwald rettete einen Mann, der in einem unterirdischen Gletscherbach zu erfrieren drohte.

Alle Informationen zum Prix Courage finden Sie unter beobachter.ch/prix-courage.