Die ersten Minuten im Gletscherstollen sind jeweils magisch. Denn über den Winter haben sich in den luftleeren Gängen faustgrosse Eiskristalle gebildet. Sie sind aussergewöhnlich schön. Durch die Luft schmelzen sie aber rasch. Nach einer halben Stunde ist alles vorbei.

Ich habe ab Mitte der Neunzigerjahre für zwanzig Jahre in der Grotte gearbeitet. Die erste Arbeitsschicht im Stollen beginnt morgens um vier Uhr, sie dauert bis 14 Uhr. Ich mochte die zweite lieber, die von 14 Uhr bis Mitternacht.

Man arbeitet in Teams, denn für mehr als drei Männer gleichzeitig ist in der engen Höhle kein Platz. Einer gräbt vorne mit Motorsäge oder Pickel den Tunnel weiter ins Eis hinein. Einer schaufelt dahinter das Eis in den Abflusskanal. Der Dritte arbeitet den anderen zu. Einen Monat dauerte es in der Regel, bis wir die 100 Meter lange Höhle in den Rhonegletscher getrieben hatten. Dann kamen die Touristen.

«Ich kenne den Eistunnel wie mein Wohnzimmer. Er hat sich verändert.»

Heute erledigen andere den Job, darum will ich mich nicht mit Eispickel oder dergleichen fotografieren lassen. Aber ich kenne den Eistunnel wie mein Wohnzimmer. Er hat sich verändert. Es ist sehr speziell, heute da zu stehen, wo früher der Eingang der Grotte war.

Das Tempo, mit dem das Eis verschwindet, ist unglaublich. Das müssen zigtausend Tonnen gefrorener Masse gewesen sein, die da weggeschmolzen sind. Vor 30 Jahren türmte sich unweit des Kiosks noch das Eis. Heute hat man zu Fuss zirka zehn Minuten vom Kiosk zum Eingang der Gletschergrotte.

In den Neunzigerjahren lag auf dem Gletscher auch im Juli noch frischer Schnee, der wirkte wie eine Schutzschicht. Heute liegen viel Schutt und Geröll auf dem Eis, was es zusätzlich erwärmt. Zum Schutz der Gletscherzunge legten wir darum weisses Flies auf. Aber auch das kann den Gang der Dinge nicht aufhalten. Letztlich ist es unausweichlich: Die Gletscher verschwinden.

Foto: Nathalie Taiana, 25.07.2023, Furkapass (VS), Die Eisgrotte im Rhonegletscher gibt es dieses Jahr mögl. zum letzen Mal. William Jerjen hat jahrelang an dieser Grotte gebaut.

«Zum Schutz der Gletscherzunge legten wir weisses Flies auf.»

Quelle: Nathalie Taiana

Geboren bin ich in Siders, aufgewachsen in Reckingen, unten im Goms. Dort wohne ich heute noch. Ich hatte alle möglichen Jobs hier im Tal, war Holzschnitzer, Pistenpräparierer, Gletschergrottenbauer. Heute betreibe ich mit meiner Frau in Reckingen eine Beiz.

Philipp Carlen, dessen Familie die Gletschergrotte betreibt, hat mich damals gefragt, ob ich mitmachen will. Die Arbeit war gut bezahlt. Zehn Stunden pro Tag, 28 Tage am Stück. Das hat sich gelohnt.

Es tropft, du schwitzt

Die Arbeit in der Gletschergrotte ist nicht besonders gefährlich. Das Eis ist eine kompakte Materie, man muss also nicht mit Einbrüchen der Decke rechnen. Aber anstrengend ist sie. Dauernd muss man die Eispickel und die Ketten der Motorsäge nachschleifen. Als Grottenchef war das mein Job.

«Wenn du mit dem Eispickel so eine Kammer erwischst, kommt dir ein Sturzbach Gletscherwasser entgegen.»

Manchmal rinnt von oben Wasser in die Eismasse hinein, und wenn die Spalte zufriert, bleibt es in den abgeschlossenen Kammern flüssig. Wenn du mit dem Eispickel so eine Kammer erwischst, kommt dir ein Sturzbach Gletscherwasser entgegen. Gut, nass wirst du sowieso. Es tropft von der Decke. Du schwitzt. In den Pausen gingen wir manchmal zurück zur Basis und zogen uns um.

Der ehemalige Grottenchef William Jerjen steht in der Eishöhle, am Boden Holzplatten, die Wände aus blauem Eis

«Das Eis ist eine kompakte Materie, man muss also nicht mit Einbrüchen der Decke rechnen.»

Quelle: Nathalie Taiana

Der Gletscher bewegt sich ständig. Es ist also nicht so, dass man im Herbst die Türe zum Gletscher verschliesst und im Frühling dort weitermacht, wo man aufgehört hat. Wenn man es strategisch angeht, lässt sich aber ein Teil der Grotte wiederverwenden. Dazu vergruben wir zum Saisonende ein Lawinenverschüttetensuchgerät, mit dem wir im Frühjahr den Rest der alten Grotte wieder aufspürten.

Es ist schade, wenn die Gletschergrotte verschwindet, aber das ist ja nur ein Symptom der Klimaerwärmung. Für die Ursache sind wir verantwortlich. Der Mensch hat einen Konsumanspruch auf diesen Planeten. Aber ich sehe nicht, dass wir bereit wären, auf irgendetwas zu verzichten. Ich halte nichts von Schuldzuweisungen, es ist wie es ist. Vielleicht wird sich die Erde erholen, wenn wir dereinst nicht mehr da sind.

Aufgezeichnet von Daniel Faulhaber