Seit Sonntag attackiert die türkische Armee kurdische und irakische Gebiete. Präsident Recep Tayyip Erdoǧan bezeichnet die Angriffe als Offensive gegen «Terroristen», nachdem in Istanbul eine Bombe sechs Menschen tötete. Die türkische Regierung machte die kurdische Arbeiterpartei PKK und die syrische Miliz YPG/YPJ für den Anschlag verantwortlich. An dieser Darstellung gibt es allerdings Zweifel. 

Der Zürcher Malek Ossi durchlebt traumatische Tage. Seine Familie lebt in dem von der Türkei angegriffenen Gebiet. 

Herr Ossi, die türkische Armee attackiert kurdische Gebiete in Nordsyrien und Nordirak. Haben Sie Kontakt zu Menschen vor Ort?

Malek Ossi: Meine ganze Familie lebt in Derik, einer kleinen Stadt in der Südosttürkei, nahe der syrischen Grenze. In der Nähe gab es mehrere Luftangriffe. Bis jetzt kamen dabei elf Zivilisten ums Leben – darunter mein Cousin Mazen Ossi. 

Was ist passiert?

Am Samstagabend bombardierte die türkische Armee ein kleines Dorf südlich von Derik. Als mein Cousin davon hörte, machte er sich gemeinsam mit anderen auf den Weg, um den Verletzten erste Hilfe zu leisten. Sie waren zu sechst im Auto. Da tauchte ein zweites Flugzeug auf, das sie gezielt bombardierte. Eine Person konnte aus dem Auto springen. Die anderen starben.

Musste die türkische Armee davon ausgehen, dass es ein verdächtiges Fahrzeug war?

Es war kein militärisches Auto, sondern ein ganz normales ziviles. Dass nach einem solchen Angriff Zivilpersonen hinfahren, um zu helfen, ist bekannt. Das weiss auch die türkische Armee. Darum bin ich mir ganz sicher, dass das weder ein Unfall noch ein Zufall war. Sondern eine rücksichtslose, hinterhältige Attacke auf Zivilpersonen. 

zur Person:

Malek Ossi, 29, flüchtete Ende 2015 über die Balkanroute in die Schweiz. Er stammt aus dem kurdischen Autonomiegebiet Rojava in Syrien. Ein grosser Teil seiner Familie lebt inzwischen in der türkisch-syrischen Grenzstadt Derik. Ossi absolviert eine Ausbildung zum Sozialarbeiter. Er lebt in Zürich.

Warum sollte die Armee das tun?

Ich habe keine Ahnung. Um Angst und Schrecken zu verbreiten? Ich kann es nicht nachvollziehen. Warum sollte man Zivilisten bombardieren? Mein Cousin hatte drei Kinder. Seine Frau ist hochschwanger mit dem vierten Kind. Da wird einfach unglaublich viel Leid angerichtet. 

Wie haben Sie davon erfahren?

Als am Samstagabend die ersten Meldungen über die Bombenangriffe kamen, versuchte ich meine Familie zu kontaktieren. Ich konnte niemanden erreichen. Da wusste ich schon, dass etwas Schlimmes passiert war. Erst am Sonntagvormittag erreichte ich endlich meine Schwester. Sie war auf dem Weg zur Beerdigung meines Cousins.

Kommen diese Angriffe unerwartet?

Nein. Als ich vom Bombenanschlag in Istanbul hörte und dass die türkische Regierung die syrische Kurdenmiliz YPG dafür verantwortlich macht, wusste ich sofort, was das bedeutet: Dass wir jetzt ein riesiges Problem haben. 

«Ich bin eigentlich ein sehr optimistischer Mensch. Aber was die Kurden-Frage und Rojava anbelangt, da habe ich die Hoffnung verloren.»

Sie vermuteten, dass Präsident Erdoǧan den Anschlag als Vorwand nehmen wird, um kurdische Gebiete anzugreifen…

Ich habe gehofft, dass ich mit dieser Annahme nicht richtig liege. Aber Erdoǧans Populismus leidet, und es steht ein Wahljahr an. Indem das kurdische Feindbild zementiert wird, kann er der türkischen Bevölkerung signalisieren, dass er sie vor dem Terrorismus schützt. Exakt dasselbe passierte schon vor den Wahlen 2018. Plötzlich gab es Anschläge in der Türkei, für die kurdische Gruppierungen verantwortlich gemacht wurden. Worauf die Armee auf deren Gebiete Bomben abwarf. 

Sie bezweifeln also, dass die YPG hinter dem Anschlag stand?

Warum sollte die YPG in der Istiklal-Strasse, einer der beliebtesten Einkaufsstrassen von Istanbul, wo auch viele Touristinnen verkehren, einen Anschlag verüben? Das macht überhaupt keinen Sinn. Ausserdem wurde innerhalb von wenigen Stunden eine Hauptverdächtige gefasst und der Öffentlichkeit präsentiert. Das stinkt doch zum Himmel. 

Inwiefern spielt Erdoǧan hier die geopolitische Situation mit dem Krieg in der Ukraine in die Hände?

Er profitiert davon, indem er die Pläne für einen schnellen Nato-Beitritt von Finnland und Schweden blockiert. Er will, dass die beiden Länder klar Stellung beziehen gegen kurdische Kämpfer. Das ist für ihn wichtig, weil er mit der Kurdenfrage viele Wählerstimmen holen kann. 

Wie schaut die kurdische Community in der Schweiz auf die Ereignisse in Nordsyrien?

Die kurdische Community ist sehr besorgt. Wir versuchen uns jetzt zu organisieren, um auf die Ereignisse aufmerksam zu machen. Wir brauchen die Öffentlichkeit. Doch derzeit scheint das Interesse an den Kurden nicht so gross zu sein. 

«In diesen Tagen geht es letztlich um die Existenz von Rojava, oder dem, was davon übrig geblieben ist. Doch gegen einen Nato-Staat sind die Kurden völlig chancenlos.»

Das war 2015 und 2016 noch anders. Damals sympathisierten viele mit den kurdischen Kämpferinnen und Kämpfern, die sich als einzige den IS-Terroristen entgegen stellten. 

Und jetzt werden sie von einer Nato-Armee angegriffen. Ich mache mir keine Illusionen. Ich weiss, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass sich da ein anderer Nato-Staat einmischt und der Türkei einen Riegel schiebt.

Sie klingen verbittert.

Es ist ungeheuerlich ungerecht. Wir haben den Terror besiegt, und jetzt hat man uns im Stich gelassen. Ich bin eigentlich ein sehr optimistischer Mensch. Aber was die Kurden-Frage und Rojava anbelangt, da habe ich die Hoffnung verloren. 

Unter dem Namen Rojava versuchten die Kurden in den letzten Jahren, eine autonome, demokratische Föderation in Nordsyrien zu etablieren. Was bedeuten die jüngsten Angriffe der Türkei für dieses Selbstverwaltungsprojekt?

In diesen Tagen geht es letztlich um die Existenz von Rojava, oder dem, was davon übrig geblieben ist. Doch gegen einen Nato-Staat sind die Kurden völlig chancenlos. Aber wenn Sie mich fragen, gibt es Rojava bereits seit zwei Jahren nicht mehr. Die Türkei hält viele Gebiete besetzt, russische und amerikanische Armeeeinheiten sind vor Ort, die kurdischen Selbstverteidigungsgruppen YPG und YPJ haben sich grösstenteils zurückgezogen. Die Entscheidungen über Rojava werden inzwischen in Washington und Moskau getroffen. 

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