«Sorry!», ruft eine laute Stimme durchs Solothurner «Solheure». Allgemeines Aufhorchen, ein paar gwundrige Blicke. Da eilt ein junger Mann zur Bar, den Rollkoffergriff in der einen, zwei Taschen in der anderen Hand. «Sorry, wirklich! Entschuldigung!», wiederholt Lukas Spichiger. «Der Bus hatte Verspätung, das Taxi stand im Stau. Schreiben Sie das etwa?» Lachen, Luft holen – «einen Latte macchiato bitte!». Dann zirkelt er seinen Business-Trolley durchs Café, wählt «einen der guten Tische» und lässt sich in den Sessel fallen.

Der 21-Jährige wirkt geschäftig, seine Agenda ist voll. Gerade kommt er aus der Nachbargemeinde Biberist, bald steht ein Treffen in der Altstadt an. «In vierzig Minuten», warnt er mit Blick auf die Uhr und legt eine Visitenkarte auf den Tisch. «Jungpolitiker» steht darauf. Er präzisiert: «Eigentlich Inklusionspolitiker, ohne Partei!» Wieder drehen sich ein paar Köpfe. «Spreche ich zu laut? Ich bin noch immer im Stress», erklärt Spichiger. Und sowieso vergesse er manchmal alles um sich herum.

ADHS ist seine Triebfeder

Lukas Spichiger hat ADHS, daraus macht er kein Geheimnis. «Meist erwähne ich es gleich am Anfang, das macht es für beide Seiten einfacher.» Der Befund kam, als er ein Jahr alt war, seit einer Weile steht eine weitere Verdachtsdiagnose im Raum: Asperger-Syndrom. Eindeutig ist die Autismus-Spektrum-Störung zwar nicht, die Diagnose tritt aber häufig gekoppelt mit ADHS auf.

«ADHS ist meine Triebfeder», sagt Spichiger. «Ich setze mich für soziale Themen ein, weil ich selber viel Diskriminierung erlebt habe.» Sein aktuelles Projekt: die Solothurner Inklusionsinitiative. «Das sparen wir uns aber für die zweite Beiz auf.» Blick auf die Uhr: noch 25 Minuten. Genug für einen Schlenker in die Vergangenheit.

Als Bub sei er quirlig gewesen, erzählt er. Das habe zu Hause, «in der geschützten Oase», niemanden gestört, sei im Unterricht aber zum Problem geworden. Also habe man ihn in eine Sonderschule gesteckt. «Nicht die schlechteste Lösung, aber ich hätte es mir anders gewünscht.» Viele Schulkameraden hatten starke geistige Einschränkungen, der Biberister fühlte sich nicht zugehörig. «Ich finde es schade, dass man Menschen wie mich sofort separiert – das passiert noch heute, schreiben Sie das ruhig! Das Signal: Ihr seid falsch, seltsam, unangepasst.»

Viele verstummen dadurch und trauen sich nichts zu. Bei ihm sei das anders gewesen. Als 10-Jähriger habe er News verschlungen, mit 15 Nachhilfe für ausländische Teenager organisiert, dann immer «weiterpolitisiert». Nach seiner Lehre begann die Corona-Zeit – eine Gelegenheit, noch tiefer in die Politik einzutauchen. «Anfangs dachten alle, ich sei ein Schnorricheib. Eine Eintagsfliege, die bald das Interesse verliert!»

Als Lukas Spichiger so richtig in Fahrt kommt, ist der Latte macchiato schon kalt. Mit gefalteten Händen reiht er Sätze aneinander, verschachtelt sie. Und egal, womit er anfängt – irgendwann führt alles zu seinem Lieblingsthema: Politik.

Soziale Projekte im Fokus

Blick auf die Uhr. «Ou, jetzt sind wir knapp!» Er kippt den Kaffee auf ex, schnappt sein Gepäck und eilt in Richtung St.-Ursen-Kathedrale. Thema to go: Spichigers politisches Engagement. Bei Kriegsausbruch sammelte er 10’000 Franken für die Ukraine, kurz darauf sorgte er für Schlagzeilen – und Irritation –, weil er den Cervelat mit einem Markeneintrag als Kulturgut schützen wollte. Seit diesem Jahr stehen soziale Projekte im Fokus: psychologische Hilfe für Kinder und Jugendliche, ein Teuerungsausgleich für AHV- und IV-Rentnerinnen.

Manchmal müsse er aufpassen, dass er sich nicht verzettle. «Etwas Freizeit brauche ich ja auch!» Bevor er die Frage nach seinen Hobbys beantworten kann, landet er wieder bei der Politik – und vor der Cafeteria Suteria («Hier müssen Sie Solothurner Torte essen!»).

Dort sitzen John Steggerda, Geschäftsleiter der Pro Infirmis Aargau-Solothurn, und Simone Rusterholz, Juristin und GLP-Kantonsrätin, an einem Tisch. Zusammen mit Spichiger haben sie die Solothurner Inklusionsinitiative lanciert. Ihr Ziel: politische Rechte für Menschen mit einer geistigen Behinderung – auch dann, wenn sie unter einer umfassenden Beistandschaft stehen.

Rund 15’000 Betroffene dürfen hierzulande weder abstimmen noch wählen. Damit verstösst die Schweiz gegen die Behindertenrechtskonvention der Uno und gegen ihre eigene Verfassung. «Niemand darf diskriminiert werden», heisst es darin. Auch nicht wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung.

Vereine und Verbände fordern seit Jahren eine bessere Inklusion, doch erst allmählich zeichnen sich auf eidgenössischer Ebene Lösungen ab. So sammelt ein überparteiliches Netzwerk seit Ende April Unterschriften für die nationale Inklusionsinitiative. Sie fordert mehr Teilhabe, Selbstbestimmung und Assistenz für Menschen mit Behinderung. Kurzum: Gleichstellung. Doch nicht alle Kantone wollen warten. Bereits im November 2020 ermöglichte der Kanton Genf 1200 Verbeiständeten die politische Teilhabe.

Solothurn zieht als Vorbild nach

«Da war für mich klar: Das brauchen wir auch!», erinnert sich Lukas Spichiger. Im Kanton Solothurn sind 206 Personen betroffen – eine kleine Zahl, könnte man denken. Trotzdem sei die Initiative weit mehr als ein Symbol, sagt John Steggerda. «Wir wollen Menschen mit Behinderung ihre Kompetenz und Autonomie zurückgeben. Wer abstimmen will, soll das auch tun können.»

Die Frist läuft bis Juni 2024, das Komitee will die Unterschriften aber schon Ende Jahr übergeben. Ein realistisches Ziel, findet Simone Rusterholz. Das Anliegen bekomme von allen Parteien Zuspruch, Bedenken höre sie selten. «Manchmal heisst es, Menschen mit Behinderung seien beeinflussbar. Aber, ganz ehrlich: Wer ist das nicht?» Man könne nie wissen, ob jemand aus voller Überzeugung wähle oder abstimme. Viele orientieren sich am Partner, an Freundinnen oder Arbeitskollegen.

Ein weiteres Gegenargument: Die können das nicht. «Das ist völlig lätz und schliesst Menschen im Vornherein aus», sagt John Steggerda. «Stattdessen sollten wir uns fragen, wie wir politische Prozesse möglichst inklusiv gestalten.» Eine einfachere Sprache oder Erklärvideos kämen allen Abstimmenden zugute.

Ab und an streut Lukas Spichiger ein «Das isch eso!» ein. Er nickt viel, lässt aber vor allem seine Mitinitianten erzählen («Wir haben ja vorher gschwätzt, gäll»). Erst beim Vergleich mit anderen Kantonen ergreift er wieder das Wort: «Für einmal ist Solothurn ein Vorbild. Luzern und Bern haben sich bereits gemeldet, weil sie Ähnliches auf die Beine stellen wollen!»

Als die Flaschen Rivella leer sind, muss der Jungpolitiker weiter. Zu einer Holzofenpizza in Bern, «aber nicht nur zum Plausch». Er helfe einem Bekannten mit Spina bifida, einer Fehlbildung der Wirbelsäule und des Rückenmarks, bei der Wohnungssuche. «Ich melde mich!», verspricht er in die Runde – und eilt aufs Neue davon.

Doppelt kompetent und vorbereitet

Eine Woche später klingelt das Telefon: «Ich bin ganz in der Nähe, kann ich vorbeikommen?» Jetzt? Jetzt. Wir treffen uns im Bistro des Zürcher Medienparks. Ein neuer Versuch: Lukas Spichiger, was sind Ihre Hobbys? «Neben Politik», betont er, «koche ich gerne asiatisch, gehe in die Oper, lese Ratgeber und Biografien von Menschen, die etwas bewegen.» Sein Vorbild sei Guido Fluri, der 2014 die Wiedergutmachungsinitiative lancierte. Mit seiner Stiftung setzt sich der Unternehmer gegen Gewalt an Kindern, für die Bekämpfung von Hirntumoren und Aufklärung bei Schizophrenie auf.

Erste Köpfe drehen sich, als er erzählt. «Ich bin wieder laut, oder?» Ein Lachen, ein Seufzen. Manchmal sei das Anderssein anstrengend. «Für zwei, drei Stunden bin ich ein lustiger Typ, dann werde ich den Leuten zu mühsam.» Schweizer bräuchten den Konjunktiv: hätte, wäre, würde – er nicht. «Manche sind überfordert mit mir. Womit genau, weiss ich nicht. Sie sagen es ja nie direkt.» Damit man ihn ernst nehme, müsse er doppelt kompetent und vorbereitet sein, sagt er nachdenklich. «So bin ich erwachsen geworden – und Politiker!»

Nach einer Stunde verabschiedet sich Lukas Spichiger – ein nächster Termin steht an. Zu seinem Geburtstag («der 22. April, ein Tag nach Queen Elizabeth!») schenkt er sich zwei neue Tattoos – dann sind es fünf. «Auch ein Hobby», lacht er. Das Liebste sei ihm noch immer das Erste: ein Kompass auf dem Innenarm, der weise ihm den Weg. Nächste Station: eine Ausbildung im sozialen Bereich. Wie es danach – und daneben – weitergeht, wird sich zeigen. «Ein, zwei Ideen habe ich schon!»