Herr Binswanger, die Schweiz wächst und wächst. Irgendwann dürften zehn Millionen Menschen in diesem Land leben …
(unterbricht) Sofern wir das einfach so hinnehmen. Dieses Wachstum ist ja nicht gottgegeben.


Sondern?
Es wird oft so dargestellt, als ob die 10-Millionen-Schweiz beschlossene Sache sei. Wie viel Migration man zulässt oder fördert, ist eine politische Entscheidung.


Bei der Diskussion um dieses Thema zeigt sich, dass viele Angst vor einer wachsenden Schweiz haben. Warum?
Ich weiss nicht, ob sie Angst haben. Ich glaube, dass sich viele Gedanken machen, wie die Schweiz in Zukunft aussehen wird. Ob es gut ist, weiter auf Wachstum zu setzen, das an eine stetige Zuwanderung gebunden ist. Natürlich können wir auch in einer 20-Millionen-Schweiz leben, wenn wir indische Slums zum Vorbild nehmen. Aber die Frage ist, ob das nicht die Lebensqualität beeinträchtigt.


Tut es das?
Das dauernde Bevölkerungswachstum führt zu Problemen. Vor allem in städtischen Ballungsgebieten. Es entsteht Wohnungsknappheit, ein Gefühl von Dichtestress. Bestehender Wohnraum wird verdichtet, und es muss mehr Land zersiedelt werden. Beides sind Dinge, die vielen keine Freude bereiten.

Zur Person

Mathias Binswanger, 61, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten. Unter anderem forscht er zum Zusammenhang zwischen Glück und Einkommen.

In seinem neuesten Buch, «Der Wachstumszwang – Warum die Volkswirtschaft immer weiterwachsen muss, selbst wenn wir genug haben», erläutert er das Dilemma moderner Wirtschaften, die ohne Wachstum im Grunde nicht funktionieren. Er kritisiert, dass dieses Wachstum nicht mehr dazu beitrage, die Bevölkerung glücklicher zu machen.

Gemäss Ranking der «Neuen Zürcher Zeitung» gehört Mathias Binswanger seit Jahren zu den einflussreichsten Ökonomen der Schweiz.

Umfragen zeigen, dass viele verdichtetes Bauen gut finden.
Ja, ausser es findet in ihrer Nachbarschaft statt. Es ist immer verdächtig, wenn man etwas grundsätzlich bejaht, es aber in der eigenen Umgebung nicht möchte. Das heisst dann: Wenn man ehrlich ist, will man es doch nicht.


Sind wir grundsätzlich zu wenig offen für neue Wege und unkonventionelle Lösungen, wenn es um Wachstumsfragen geht?
Nicht unbedingt. Städte wie Zürich haben sich ja radikal verändert in letzter Zeit. Es ist vielmehr die Frage, ab wann eine Wachstumsgrenze erreicht wird, ab der es für Menschen und Natur zu viele negative Konsequenzen gibt.

«Es ist eben nicht dasselbe, wenn ein kleinräumiges Land wie die Schweiz von vier auf fünf Millionen oder von zehn auf elf Millionen wächst.»

Geht es nicht vielmehr darum, dass wir es einfach gern so haben, wie es ist – und nur ungern etwas am Status quo verändern?
Wir sind schizophren, wenn es um Veränderungen geht. Menschen wollen, dass alles gleich bleibt und sich gleichzeitig alles verändert und verbessert. Wir wollen Stabilität, aber auch ein interessantes Leben. Wir wollen Sicherheit und gleichzeitig Freiheit. Das ist in dieser extremen und sich widersprechenden Form aber nicht möglich. Zufriedenheit oder Glück empfinden die Leute, wenn sie sich massvoll zwischen diesen Gegensätzen bewegen können.


Also macht uns nur ein massvolles Wachstum glücklich?
Das hängt davon ab, wie viele Menschen schon in einem bestimmten Raum leben. Solange fast niemand da ist, ist Zuwanderung kein Problem. Im Gegenteil, dann entstehen Zivilisation, Kultur, Kollektivität. Aber es ist eben nicht dasselbe, wenn ein kleinräumiges Land wie die Schweiz von vier auf fünf Millionen oder von zehn auf elf Millionen wächst.

«Wirtschaftswachstum bringt Wohlstand und Arbeit. Aber es ist heute auch mit erheblichem Kollateralschaden verbunden.»

Nicht nur die Bevölkerung wächst, sondern auch die Wirtschaft. Wie eng sind diese zwei «Wachstümer» miteinander verknüpft?
In der Schweiz haben wir seit der Einführung der Personenfreizügigkeit 1,8 Prozent Wirtschaftswachstum pro Jahr. Wenn man das pro Einwohner berechnet, sind es aber nur 0,9 Prozent. Das heisst, etwa die Hälfte des Wachstums fusst auf Zuwanderung.


Ist das viel?
Ein Pro-Kopf-Wachstum von 0,9 Prozent ist relativ wenig. So wenig, dass man sich tatsächlich fragen muss, ob ein solches auf Zuwanderung beruhendes Wachstum weiterhin angestrebt werden soll, wenn dann nur ein geringes Pro-Kopf-Wachstum dabei herausschaut.


Anders als vor dem Bevölkerungswachstum scheinen die Leute vor dem Wirtschaftswachstum weniger Angst zu haben. Weil sie meinen, davon zu profitieren?
Das ist ambivalent. Klar, Wirtschaftswachstum bringt Wohlstand und Arbeit. Aber es ist heute auch mit erheblichem Kollateralschaden verbunden. Der betrifft vor allem die Klimaerwärmung, die durch die Wirtschaftstätigkeit verursacht wird.


Aber Wohlstand macht uns glücklich, nicht?
Das kann man so pauschal nicht sagen. In hoch entwickelten Ländern wie der Schweiz stellen wir fest, dass das Wirtschaftswachstum die Leute im Durchschnitt nicht glücklicher macht. Wirtschaftswachstum wurde über eine lange Zeit als etwas grundsätzlich Positives gesehen, und es hat uns einen enormen materiellen Wohlstand beschert. Nun machen sich aber immer mehr negative Aspekte bemerkbar. Das entfesselt die Diskussion, ob man in Zukunft überhaupt noch Wachstum will.

«Es funktioniert auch mit relativ wenig Wachstum. Das sieht man zum Beispiel in Japan.»

Ginge es denn anders? Oder müssen wir unweigerlich wachsen, wirtschaftlich gesehen?
Tatsächlich gibt es in modernen Wirtschaften einen Wachstumszwang. Nicht deshalb, weil die Menschen immer noch mehr konsumieren wollen oder weil Kapitalisten immer noch gieriger werden. Der Grund liegt in der Funktionsweise des Wirtschaftssystems. Damit Unternehmen längerfristig überleben, müssen sie Gewinne machen, weil sie sonst in Konkurs gehen. Damit eine Mehrheit der Firmen tatsächlich immer Gewinne erzielen kann, braucht es Wachstum.


Was ist die Alternative? Stagnation?
Eine Stagnation funktioniert in diesem System nicht. Es gibt entweder eine Dynamik nach oben oder eine Dynamik nach unten. Doch eine Dynamik nach unten führt schnell in eine Abwärtsspirale und damit in eine ökonomische Krise.


Also sind wir Gefangene dieses Wachstumszwangs.
Ja, aber es funktioniert auch mit relativ wenig Wachstum. Das sieht man zum Beispiel in Japan. Die Wachstumsrate des realen Bruttoinlandprodukts pro Jahr betrug in den letzten 30 Jahren im Durchschnitt etwa 0,4 Prozent.


Und das führte nicht zu Problemen?
Nein, es führt weder zu einer Krise, noch gibt es eine hohe Arbeitslosigkeit. Eine gewisse Mässigung ist also möglich. In der Vergangenheit hiess es immer: Hauptsache, Wachstum! Heute müssen wir uns überlegen, welches Wachstum Sinn ergibt.

«Momentan haben wir kein Instrument in der Hand, um die Zuwanderung aus der EU zu begrenzen.»

Welches Wachstum ist denn sinnvoll?
Sinn ergibt Wachstum, das die Lebensqualität erhöht. Wenn man weiter Firmen ansiedelt, um die Produktion und den Wirtschaftsstandort Schweiz zu stärken, führt das zu mehr Zuwanderung. Das verursacht einen erheblichen Druck auf die Wohnungsknappheit, die Mobilität oder den Freizeitbereich – und schränkt die Lebensqualität ein. Es wäre in vielen Gemeinden sinnvoll, sich zu überlegen, ob man noch mehr ausländische Firmen anlocken will.


Was Sie sagen, ist doch eigentlich: Weniger Zuwanderung führt zu weniger Wachstum. Aber gefährdet das nicht unseren Wohlstand?
Nein. Wir können auch mit geringeren Wachstumsraten erfolgreich wirtschaften. Gerade das zeigt das Beispiel Japan. Wenn die Zuwanderung sinkt, fällt zwar das absolute Wachstum kleiner aus. Doch das Wachstum pro Kopf wird nicht kleiner. Und dieses ist entscheidend für den Wohlstand.


Können Sie das mit einem Rechenbeispiel veranschaulichen?
Es ist ganz einfach: Wenn das Wachstum des Bruttoinlandprodukts von 2 auf 1 Prozent sinkt und das Wachstum der Bevölkerung von 1 auf 0, dann gibt es keine Abnahme des Bruttoinlandprodukts pro Kopf. Der Wohlstand nimmt also ebenso wenig ab.

«Man kann die Kündigung der Personenfreizügigkeit mit der EU mal als Drohung in den Raum stellen.»

Begrenzung der Zuwanderung: Da fassen Sie ein heisses Eisen an.
Momentan haben wir kein Instrument in der Hand, um die Zuwanderung aus der EU zu begrenzen. Der grösste Bevölkerungszuwachs erfolgt über die Personenfreizügigkeit.


Sie fänden also eine Beschränkung der Personenfreizügigkeit sinnvoll?
Man muss nicht die Personenfreizügigkeit an sich in Frage stellen, aber sie muss um weitere Bestimmungen ergänzt werden. Wichtig ist, dass die Diskussion zu diesen Fragen in Gang gesetzt wird. Natürlich wollen wir weiterhin funktionierende wirtschaftliche Beziehungen zur EU. Aber man kann die Kündigung der Personenfreizügigkeit mal als Option und damit als Drohung in den Raum stellen, damit die Problematik der starken Zuwanderung in die Schweiz wahrgenommen wird.


Sie sagen immer wieder: «Alles ist eine Frage des Masses.» Doch wir leben in einem System, das masslos ist, ja wo es gar einen Zwang zur Masslosigkeit gibt.
Das stimmt. Die Wirtschaft an sich ist masslos. Deswegen braucht es die Politik, um eine Mässigung einzuleiten und die Lebensqualität zu erhalten.
 

Und erfüllt die Politik Ihrer Meinung nach diese Aufgabe?
Wenn man sie dazu zwingt. Es ist alles eine Frage des Drucks. Von sich aus macht die Politik wenig. Sie reagiert auf den Druck, der von aussen entsteht.