«Ihr habt rein gar nichts verstanden», hämmerte es in meinem Kopf, während die traurigen Gesichter an mir vorüberzogen. Gesicht nach Gesicht, jedes betrübter als das letzte, eine nicht enden wollende Welle von Trauer. Wie in Trance streckte ich jedem dieser Gesichter meine Teenagerhand hin, äusserlich artig, innerlich wütend.

Es war der Tag der Beerdigung meiner Tante – der Tag, an dem mir klar wurde, dass dieses organisierte Kondolieren Verhalten im Todesfall Wie geht man mit Trauernden um? eine ganz perfide Form der Folter war. Ich wollte diesen Menschen nicht die Hand geben. Ich kannte die meisten von ihnen nicht. Ich wollte ihr Mitgefühl nicht, weil es sich falsch anfühlte. Bleischwer statt stützend, klebrig statt sanft. Vor allem aber wütete in mir der Ärger. Diese Leute hatten nichts verstanden. Mein Gotti war jetzt frei. Heute war ein Tag zum Feiern.

Den letzten Satz zu schreiben, ist mir nicht leichtgefallen. Denn mir fehlt meine Tante. Mir fehlen ihre bedingungslos sprudelnde Energie, ihre Spaghetti Carbonara. Ihre krasse Bereitschaft, mit der Mode zu gehen, auch wenn das hiess, tonnenweise azurblauen Lidschatten zu tragen oder einen Porzellanleoparden ins Wohnzimmer zu stellen. Aber jener Tag war ein Tag zum Feiern. Und diese Leute hatten nichts verstanden.

«Danke. Endlich»

Meine Tante ist an Krebs gestorben. Nach einem heimtückischen Verlauf, in dem es ab und zu Hoffnung gab, vor allem aber unendlich lange Spitalaufenthalte, Verzweiflung, Schuldgefühle und Schmerzen. Ich weiss heute noch, wie sich in den frühen Morgenstunden jemand an meinen Bettrand setzte und mir erklärte, dass mein Gotti gestorben war. Und wie ich innerlich meinen Draht nach oben geöffnet und geflüstert habe: «Danke. Endlich.»

«Wir reden selten offen darüber, was der Tod für uns bedeutet.»

Caroline Fux, Psychologin

Ich bin nicht sicher, ob ich je mit jemandem über diese Beerdigung gesprochen habe. Darüber, wie es war, an jenem Tag im März die Tragödie des Verlustes mit dem Glücksfall des Todes vermischt zu sehen. Wie wunderbar ich es damals fand, dass meine Tante endlich dieses marode gewordene Raumschiff namens Körper hinter sich lassen und wieder frei sein konnte. Wie grässlich weh diese finale Niederlage tat, aber wie schonungslos gut und richtig sie gleichzeitig war.

Wir reden selten offen darüber, was der Tod für uns bedeutet. Ob wir ihn fürchten oder nicht, für uns oder für andere. Wie wir ihm begegnen wollen, wenn wir seine Existenz nicht mehr verleugnen können. Aus dem Beratungsalltag weiss ich, wie oft der Tod mit Schamgefühlen verbunden ist. Ein bisschen überrascht es mich noch immer, wie sehr wir offenbar erwarten, dass Trauer ein bestimmtes Gesicht, ein bestimmtes Timing hat. Wie wir von uns und anderen enttäuscht sind, wenn es anders kommt. Als würden für diese Erlebnisse Noten verteilt, als könnte man irgendwie durchfallen.

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Im Todesfall – Der komplette Ratgeber für Angehörige
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Für seine Gefühle rechtfertigen

Also höre ich diesen Menschen zu, die sich schämen, weil sie «zu wenig traurig» sind oder «zu heftig». Wütend statt down, erleichtert statt zerstört. Menschen, die sich rechtfertigen müssen, weil sie zu lange in ein Loch fallen – oder zu schnell weitermachen. Oder weil sie um ein Tier heftiger trauern als um einen Menschen. Kurz: weil sie das Gefühl haben, mit etwas falschzuliegen, von dem ich mich von ganzem Herzen frage, wo denn, bitte schön, die Wahl in der jeweiligen Reaktion liegen soll.

Menschen, die einen Verlust erlitten haben, sollten wir nicht mit Erwartungen und mit Vorschriften darüber überhäufen, wie sie damit umzugehen haben. Einer Begegnung mit dem Tod wohnt immer etwas ultimativ Persönliches inne. Wie soll also das, was auf ihn folgt, in eine Schuhschachtel aus Normen und Erwartungen passen? So gesehen ist der schönste Trost, den man schenken kann, vielleicht die Versicherung, dass in Ordnung ist, was ein trauernder Mensch fühlt. Jetzt und an jedem weiteren Tag des Prozesses.

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