Es ist völlig verständlich, dass Sie sich Sorgen machen. Und wenn Ihr Sohn über längere Zeit keine Gefühle zeigen sollte, wäre es tatsächlich angebracht, eine Fachperson beizuziehen. Vorerst würde ich jedoch noch zuwarten. Trauern ist ein Prozess, der ganz unterschiedlich abläuft. Es kann für Ihren Elfjährigen richtig sein, vorderhand nicht zu reagieren. Vielleicht muss er sich etwas an die Situation ohne Vater gewöhnen, sich wieder stabilisieren, bevor er sich starken Emotionen öffnen kann. Zeigen Sie in der jetzigen Phase Ihre Liebe und Ihr Interesse an seinem Erleben. Fragen Sie immer wieder unaufdringlich, wie es ihm geht und ob er über seine Gefühle und Gedanken reden will – aber respektieren Sie auch ein Nein. Es wäre möglich, dass er sich einem unbeteiligten Therapeuten gegenüber besser öffnen könnte. Klären Sie auch das.

Vier Phasen des Trauerprozesses

Der Verlust eines geliebten Familienmitglieds gehört wohl zum Schmerzhaftesten, was uns im Leben passieren kann. Glücklicherweise ist unsere Seele so eingerichtet, dass wir daran nicht zerbrechen müssen, sondern das Ereignis verarbeiten können. Schon Sigmund Freud prägte den Begriff «Trauerarbeit», und auch moderne Psychologen haben sich damit beschäftigt. Die Schweizer Psychoanalytikerin Verena Kast zum Beispiel nennt in einem Buch vier Phasen des Trauerprozesses:

  • In der ersten Phase kann man oft nicht wirklich glauben, dass so etwas Schreckliches tatsächlich geschehen ist. Es ist wie ein böser Traum, aus dem man aufzuwachen hofft. Manche Menschen sind auch empfindungslos und fühlen sich wie gelähmt.

  • In der zweiten Phase brechen dann die Gefühle hervor: Trauer um alles Verlorene und Angst vor der Zukunft. Stärker tabuisiert, aber ebenso natürlich sind Gefühle der Wut auf den Verstorbenen, weil er einen verlassen hat, oder auf das Schicksal.

  • In einer dritten Phase findet allmählich eine Ablösung statt. Symbolisch werden dann oft Gegenstände, die mit dem Verstorbenen verbunden sind, weggeräumt. Gleichzeitig übernimmt man aber auch nicht selten einzelne Verhaltensweisen der verlorenen Person: Verinnerlicht lebt so ein Teil von ihr weiter.

  • Das führt zur vierten Phase, in welcher der Verlust akzeptiert werden kann. Man orientiert sich neu in der Welt und gegenüber den Mitmenschen. Meist hat die Erinnerung an den Verstorbenen einen Platz in der Seele gefunden, den man von Zeit zu Zeit aufsuchen kann.
Leider meiden viele Leute die Trauernden

Der Theologe Yorick Spiegel beschreibt ebenfalls vier Trauerphasen. Nach einer Schockphase folgt eine Zeit, in der die Gefühle kontrolliert werden. Der scheinbar unberührte elfjährige Ralph könnte in dieser Phase stecken. Dann folgt eine Phase des Rückzugs, in der getrauert wird. Hier besteht die Gefahr, sich allzu sehr abzukapseln und den Anschluss an die Welt zu verlieren. In der vierten Phase schliesslich wird eine Rückkehr ins Leben und in die Beziehungsfähigkeit möglich.

Wie bereits erwähnt, verläuft jeder Trauerprozess individuell, nicht alle Phasen müssen auftreten, die Reihenfolge kann auch mal umgekehrt sein. Es kann Rückschritte in frühere Phasen geben.

Wenn die Trauerarbeit misslingt oder gar nie stattgefunden hat, besteht die Gefahr chronischer Depressionen. Eine psychotherapeutische Begleitung kann helfen, die Trauerarbeit zu fördern oder wieder in Gang zu bringen.

Aber auch Laien können Trauernden helfen. Leider machen viele Leute einen Bogen um die Betroffenen, aus Scheu vor dem Thema Tod, aus Angst, Wunden aufzureissen oder aufdringlich zu wirken. Das ist falsch. Mitgefühl heilt! Es braucht keine wohlgesetzten Worte. Wer Interesse für das Erleben Trauernder zeigt, wer seine Betroffenheit nicht versteckt, wer damit zeigen kann, dass die Verwaisten nicht allein sind, ist eine grosse Hilfe.

Buchtipp

Verena Kast: «Trauern. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses»; Kreuz-Verlag, 2002, 224 Seiten, Fr. 27.90.