Wenn es losgeht, verliert Eva Steiner die Kontrolle. Die Frau mit dem sanften Lächeln wird zur Furie. «Dann könnte ich jemandem an die Gurgel gehen», sagt sie. Stattdessen ergreift sie die Flucht. Wie an diesem Morgen im Zug, als der Herr vis-à-vis in einen Apfel biss. Das Mahlen des Kiefers, sein Schmatzen und Schlucken liessen Steiner ausflippen. Den Rest der Fahrt verbrachte sie, wie so oft, im Gang. In den Ohren Stöpsel, die Umgebungslaute herausfiltern. «Ohne sie traue ich mich nicht mehr aus dem Haus.»

Die alleinerziehende Mutter zweier Teenager sitzt am Esstisch ihrer Wohnung in Spiez und schenkt geräuschlos ein Glas Wasser ein. Leise tickt eine Wanduhr, im oberen Stock dröhnt dumpf ein Staubsauger, in der Ferne läuten Glocken. Die 42-Jährige leidet an Misophonie. Betroffene reagieren panisch auf bestimmte Geräusche. Bei Steiner sind es zurzeit Essenslaute und dumpfe Bässe. Es gibt kein Mittel dagegen, kaum Studien. Es ist nicht mal klar, ob Misophonie eine Krankheit ist. Manche vermuten eine psychische Störung, andere einen Mangel am Glückshormon Dopamin.

Sie wollte die Mutter nicht verletzen

Angefangen hat es bei Steiner in der Kindheit. Dass ihre Mutter auf Autofahrten ein Bonbon nach dem andern lutschte, trieb sie schier in den Wahnsinn. Um die Mama nicht zu verletzen, sagte sie nichts. Doch der Beziehung habe das nicht gutgetan.

Was alles noch schlimmer macht, sind die Selbstvorwürfe. Die tausend gescheiterten Versuche, toleranter zu werden. Und die Wut auf sich selbst, weil sie «es» nicht kontrollieren kann. 

Misophonie soll nicht die Kontrolle über das Leben übernehmen

«Das soziale Leben leidet extrem darunter.» Ein schönes Erlebnis kann blitzartig ins Gegenteil kippen. Sie ginge gern öfter ins Theater oder ins Kino, fürchtet aber, neben jemandem sitzen zu müssen, der Kaugummi kaut. «Dann konzentriere ich mich nur noch darauf, nicht auszurasten.» Wenn sie doch einmal ausgeht, dann mit einem unguten Gefühl im Bauch. Und mit reservierten Sitzplätzen ganz am Rand.

Steiner hat sich zwar mit anderen Betroffenen vernetzt. Aber: «Ich will das nicht zu meinem Lebensinhalt machen.»

Serie «Sie haben etwas mehr im Sinn»

In unserer fünfteiligen Serie stellen wir Menschen vor, bei denen ein Sinnesorgan besonders ausgeprägt ist. Sie alle haben im jeweiligen Bereich eine verschärfte Wahrnehmung. Die wachen Sinne können dabei ein Segen sein – oder aber zum Fluch werden, wenn sie zu scharf sind.

 

Teil 1

Absolutes Gehör: «Ich dachte, alle hören so wie ich»

Die meisten Menschen hören, ob die Musik laut oder leise ist. Karin Streule erkennt dank absolutem Gehör zusätzlich, um welchen Ton es sich handelt und ob sie die richtige Tonhöhe haben. 

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Teil 2

Synästhesie: Wenn Töne nach saurer Zitrone schmecken

Wache Sinne sind ein Segen. Für Elisabeth Sulser ist ihre zusätzliche Sinneswahrnehmung mitunter aber auch ein Fluch: Als Synästhetikerin sieht sie Töne als Farben oder schmeckt sie auf der Zunge.

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Teil 3

Fotografisches Gedächtnis: Jedes Bild brennt sich ins Gedächtnis ein

Wenn Walter Aeberli beim Zugfahren aus dem Fenster schaut, erinnert er sich auch Jahrzehnte danach noch an jedes Detail der vorbeiziehenden Landschaft. Seine besondere Gabe stellt der Rentner nun der ETH zur Verfügung.

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Teil 4

Misophonie: Wenn jemand in einen Apfel beisst, flippt sie aus

Wer an Misophonie leidet, für den sind gewisse Geräusche unerträglich. Doch bislang ist nicht mal klar, ob die Störung überhaupt eine Krankheit ist. Eine Betroffene erzählt von ihrem Spiessrutenlauf mit Geräuschen.

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Teil 5

Hochsensibler Geruchssinn: Sie hat einen guten Riecher

Brigitte Witschi ist ein Nasenmensch. In ihrer Erinnerung speichert sie zu Orten und Menschen vor allem die Düfte. Und sie kann riechen, wenn jemand Angst hat.

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Wissen, was dem Körper guttut.
«Wissen, was dem Körper guttut.»
Chantal Hebeisen, Redaktorin
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