Wenn der Staubsauger läuft, sieht Elisabeth Sulser einen ockerfarbenen Strich, wie mit Wasserfarbe hingepinselt. Das Surren der elektrischen Zahnbürste erlebt sie als bordeauxrote Perlenkette. Eine Polizeisirene bildet eine rosa-türkisfarbene Schlangenlinie.

Sulser sah schon immer Geräusche in Farben und Formen – wie auf einer inneren Leinwand. «Als ich mit 16 herausfand, dass andere keine farbigen Töne sehen, war ich geschockt», erinnert sich die Bündnerin. Sie fürchtete, sie sei psychisch krank. Bis sie ein Buch über Synästhesie fand.

«Am liebsten habe ich rahmige, süsse Musik.»

Die Kopplung von Sinnesreizen im Gehirn ist selten, nur wenige Prozent der Bevölkerung sind Synästhetiker. Das Farbenhören ist eine der häufigeren Formen. Doch Sulser kann Tonintervalle auch auf der Zunge schmecken. Das machte sie zu einer wissenschaftlichen Sensation.

Eine Quinte ist für sie wie klares Wasser, eine grosse Sexte rahmig mild. Bei einer kleinen Sekunde zieht sich im Mund alles zusammen, als bisse sie in eine Zitrone. «Am liebsten habe ich rahmige, süsse Musik, zum Beispiel die Symphonie Nr. 4 von Brahms.»

Kinderschreie sind wie Kratzspuren

Was magisch klingt, ist für die 40-Jährige normal. Manchmal aber auch unangenehm. Sulser hält gewisse Geräusche fast nicht aus. Husten und Niesen sind wie dunkle Tintenkleckse, Kinderschreie wie Kratzspuren. «Moderne klassische Musik ist ein unmögliches Chaos», erzählt sie. «Süss, salzig, bitter, rot, grün – Farben und Geschmäcke, die viel zu schnell aufeinanderfolgen und überhaupt nicht zusammenpassen.»

Während ihrer Ausbildung an der Hochschule für Musik und Theater in Zürich riskierte die Blockflötistin lieber schlechte Noten im Vorspielen, als dass sie ein für sie grausiges Stück übte. «Akustische Reize können mich komplett überfordern. Dann muss ich mich richtig zusammenreissen, damit ich mich nicht seltsam verhalte.»

Aber natürlich zieht die Musikerin aus ihrer Synästhesie auch Vorteile. Sie lernt Stücke im Eiltempo auswendig – indem sie den Farben und Formen folgt, die sich auf ihrer inneren Leinwand ausbreiten.

Serie «Sie haben etwas mehr im Sinn»

In unserer fünfteiligen Serie stellen wir Menschen vor, bei denen ein Sinnesorgan besonders ausgeprägt ist. Sie alle haben im jeweiligen Bereich eine verschärfte Wahrnehmung. Die wachen Sinne können dabei ein Segen sein – oder aber zum Fluch werden, wenn sie zu scharf sind.

 

Teil 1

Absolutes Gehör: «Ich dachte, alle hören so wie ich»

Die meisten Menschen hören, ob die Musik laut oder leise ist. Karin Streule erkennt dank absolutem Gehör zusätzlich, um welchen Ton es sich handelt und ob sie die richtige Tonhöhe haben. 

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Teil 2

Synästhesie: Wenn Töne nach saurer Zitrone schmecken

Wache Sinne sind ein Segen. Für Elisabeth Sulser ist ihre zusätzliche Sinneswahrnehmung mitunter aber auch ein Fluch: Als Synästhetikerin sieht sie Töne als Farben oder schmeckt sie auf der Zunge.

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Teil 3

Fotografisches Gedächtnis: Jedes Bild brennt sich ins Gedächtnis ein

Wenn Walter Aeberli beim Zugfahren aus dem Fenster schaut, erinnert er sich auch Jahrzehnte danach noch an jedes Detail der vorbeiziehenden Landschaft. Seine besondere Gabe stellt der Rentner nun der ETH zur Verfügung.

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Teil 4

Misophonie: Wenn jemand in einen Apfel beisst, flippt sie aus

Wer an Misophonie leidet, für den sind gewisse Geräusche unerträglich. Doch bislang ist nicht mal klar, ob die Störung überhaupt eine Krankheit ist. Eine Betroffene erzählt von ihrem Spiessrutenlauf mit Geräuschen.

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Teil 5

Hochsensibler Geruchssinn: Sie hat einen guten Riecher

Brigitte Witschi ist ein Nasenmensch. In ihrer Erinnerung speichert sie zu Orten und Menschen vor allem die Düfte. Und sie kann riechen, wenn jemand Angst hat.

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Wissen, was dem Körper guttut.
«Wissen, was dem Körper guttut.»
Chantal Hebeisen, Redaktorin
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