Was tun, damit die Fetzen nicht fliegen?
Verbringt eine Familie plötzlich viel Zeit miteinander, kommt es schnell zu Streit. Familientherapeutin Ursula Enderli weiss, wie sich das vermeiden lässt.
Veröffentlicht am 26. März 2020 - 14:58 Uhr
«Bleiben Sie zuhause», appelliert Bundesrat Alain Berset momentan bei jeder Gelegenheit an die Schweizerinnen und Schweizer. Und die meisten halten sich daran. Doch für Familien mit Kindern ist das nicht immer einfach. Wenn alle nonstop aufeinanderhocken, hat das Konfliktpotenzial.
Das merkt auch Walter Noser vom Beobachter-Beratungszentrum. Die Anrufe zu diesen Themen hätten in den letzten Tagen zugenommen. «Viele Leute sind am Anschlag, weil sie zuhause sitzen und ihnen langweilig ist.» Ein Familienvater schildert es so: «Die momentane Situation zerstört alles bei uns zuhause. Wir leben in einem Block in einer kleinen Wohnung. Die ganze Harmonie, welche wir aufgebaut haben, geht in diesen Tagen kaputt.»
Der momentane Zustand ist für niemanden einfach, vor allem, weil nicht klar ist, wie lange er noch anhält. Man solle sich davon aber nicht verrückt machen lassen, rät Noser. Einige Personen treffe die Corona-Krise aber härter als andere. «Leute, die es vorher schon schwer hatten, haben es jetzt noch schwerer», sagt Noser. Nicht alle hätten Ressourcen, wie Geld oder ein soziales Umfeld, um diese aussergewöhnliche Situation zu meistern.
Das bestätigt Ursula Enderli, sie ist Familientherapeutin in Zürich und Leiterin der Jugendberatungsstelle Blinker. «Bei Familien, in denen es vorher schon nicht einfach war, brechen Konflikte durch die Ausnahmesituation hervor.» Diesen Familien rät sie, sich an Fachstellen zu wenden, wenn gar nichts mehr geht. «Meine Kolleginnen und Kollegen arbeiten auch während der Corona-Krise
, momentan sind sie sogar gefragter als sonst.» Beratungen seien per Telefon oder Skype möglich. Ausserdem könnten sich Familien an Beratungsstellen wie die
Dargebotene Hand unter der Nummer 143 oder an die Kinder- und Jugendberatung der Pro Juventute unter der Nummer 147 wenden.
Bevor professionelle Unterstützung nötig ist, können Familien aber verschiedene Strategien anwenden, um trotz Home Office
und Fernunterricht harmonisch zusammenzuleben. «Es ist wichtig, sich eine Struktur für den Tag zu überlegen», sagt Familientherapeutin Enderli. Die Familie solle gemeinsam festlegen, wann gegessen werde und wann Zeit für Schule und
Arbeit sei. Diese Struktur sollte sich so nah wie möglich am gewohnten, «normalen» Alltag orientieren. «Immer bis um 12 Uhr mittags zu schlafen, ist keine gute Idee», sagt Enderli. Dafür seien klare Absprachen zwischen den Elternteilen und mit den Kindern nötig.
Wer sich trotzdem auf die Nerven geht, soll Rückzugsräume schaffen. «Solange man noch nach draussen gehen darf, sollte man das unbedingt regelmässig tun», rät Enderli. Wem das nicht möglich sei, der solle sich auf eine andere Weise zurückziehen. Ob man dafür eine Weile ins eigene Zimmer geht, eine Stunde in der Badewanne liegt oder sich nur mit Kopfhörern von der Welt abkapselt, spielt keine Rolle.
Eltern mit Kindern sollten sich absprechen und die Kinderbetreuung ab und zu aufteilen, damit einer von beiden Zeit für sich verbringen kann. Alleinerziehende sollen laut Familientherapeutin Enderli unbedingt nach Hilfe fragen und Hilfsangebote annehmen , um Zeit für sich zu haben.
Anstatt sich aus dem Weg zu gehen, kann man als Familie aber auch eine andere Strategie wählen. «Spielen Sie Gesellschaftsspiele », rät Ursula Enderli. Da auch dabei erfahrungsgemäss Konflikte entstehen können, sollte man solche wählen, bei denen es friedlich zu und her geht. «Es geht vor allem darum, sich gemeinsam auf etwas zu konzentrieren.» Das könne auch eine Geschichte sein, die jemand vorliest. «Es ist erstaunlich, wie auch ältere Kinder und Jugendliche bereit sind, sich auf eine Erzählung einzulassen.»
Was laut Enderli ebenfalls hilft, ist eine alte Familientradition wieder aufleben zu lassen. «Das kann ein Film sein, den man früher immer zusammen geschaut hat oder ein Gericht, das man jeweils zusammen gekocht hat.» Alle diese Tätigkeiten sorgen laut der Familientherapeutin für eine harmonische Grundstimmung und können dauernden Streit verhindern.
Und was, wenn gar nichts mehr hilft und Eltern die Kinder am liebsten einfach vor einen Bildschirm setzen würden? «Wenn wir ehrlich sind, werden Kinder mit oder ohne Corona-Krise vor Bildschirme gesetzt», sagt Enderli dazu. Nur würden das jetzt auch Eltern tun, die von dieser Erziehungsmethode normalerweise nicht Gebrauch machen. «Wenn das eine Möglichkeit ist, einen friedlichen Nachmittag zu erleben und durchzuatmen, wieso nicht?»
Die Familientherapeutin warnt aber davor, das zur Gewohnheit
zu machen. Denn dann sei es schwierig, die Kinder wieder umzugewöhnen. Laut Enderli sollten Eltern diesen Aspekt immer mitbedenken, wenn sie den neuen Alltag während der Corona-Krise gestalten. «Aber wir erleben eine Ausnahmesituation, da sollen Ausnahmen möglich sein.»
Wie Eltern ihre Kinder durch die Corona-Krise begleiten können
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